Nachbarn sind auch nur Menschen
Gastkommentar von Stefan Theißbacher
Eine komische Sache ist das mit den lieben Nachbarinnen und Nachbarn. Ob man will oder nicht, sie sind da. Immer. Über, unter, neben einem. Man sucht sie sich nicht aus – und muss sich doch mit ihnen arrangieren. Wer kennt ihn/sie nicht, den heimlichen Hausmeister, die Gangaufsicht, die Tratschn, die lauten Gschroppn, die Katzenfrau, den Messie, den Eigenbrötler, … Es scheint, als wäre „fällt nicht negativ auf“ die höchste Auszeichnung, die ein Nachbar bekommen kann.
Wenn in einer Runde das Gespräch auf das Thema Nachbarschaft kommt, gibt’s regelmäßig „Ja, aber“-Reaktionen. „Stimmt, man müsste mehr Kontakt haben, aber mit dem Nachbarn von Tür 12 möcht ich lieber nichts zu tun haben. Aus seiner Wohnung riecht’s oft so komisch“ Oder: „Grad letztens, beim Ausmalen, wär’s praktisch gewesen, aber die Nachbarin nebenan ist so neugierig, dass ich sie nicht um eine Leiter fragen wollte.“
Auch ich kann einige Geschichten über meine Nachbarn beisteuern. Spontan fällt mir das recht leidenschaftliche Pärchen von schräg gegenüber ein. In Situationen, in denen andere Paare die Fenster schließen und die Vorhänge zuziehen, lässt es gern mal das Fenster offen – um im weiterer Folge das Gurren der Tauben im Innenhof problemlos zu übertönen.
Aber ich habe meine Nachbarn auch ganz anders kennengelernt. Nicht gleich, als ich nach Wien gekommen bin. Anfangs war ich froh, Reichenfels - der Ort in Kärnten ist so klein, wie er klingt - hinter mir zu lassen. In einer Großstadt wohnen, anonym leben, Uni, Clubs, Theater, Cafés – da war so vieles, das mich mehr interessiert hat als meine Nachbarschaft.
Anders wurde das erst, als ich beschloss, mir in Wien etwas aufzubauen. Da fand ich es plötzlich seltsam, Menschen, mit denen ich unter einem Dach lebe, im Stiegenhaus zwar mit „Hallo“ zu grüßen, sie draußen auf der Straße aber nicht als Nachbarn zu erkennen. Ich fing deshalb an, mehr als nur „Hallo“ zu sagen. Und überraschenderweise antworteten viele meiner Nachbarn auch mehr als nur „Hallo“. Mein Haus hat sich schnell mehr nach einem Zu-Hause angefühlt. Einfach so. Weil ich plötzlich kein ungutes Gefühl mehr hatte, sonntags wegen Milch anzuklopfen. Weil wir im Lift, in den 20 Sekunden nach unten, endlich etwas zu reden hatten. Weil ich einen Stock tiefer meine Wäsche waschen konnte, als meine Waschmaschine gestreikt hat.
Umgezogen bin ich dann trotzdem. Aber auch in der neuen Wohnung gab es Nachbarn. Die haben mir einen Arzt empfohlen, der einem zuhört, bevor er ein Rezept ausstellt. Und für die Zeit, in der Nessie - ich schätze sie auf 70, sie wohnt ein paar Straßen weiter - auf Kur war, hat sie mir ihr Rad geborgt. Gratis übrigens. Einfach, weil ich sie danach gefragt habe.
Es gibt einen Unterschied zwischen „Anrainern“ und „Nachbarn“. Ein „Nebeneinander“ kann ganz schnell zu einem „Miteinander“ werden. Ob man will oder nicht, die Nachbarn sind immer da. Warum also nicht die Tür einen Spalt weit für sie öffnen? Warum ihnen nicht eine Chance geben, auch für einen da zu sein?
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