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Die Kunst des Wachsens

Burn-out liefert einen neuen Nährboden für ein keimendes Leben, welches vorher nicht möglich war. Gastkommentar von Evelyne Huber

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Foto: privat Foto: privat

Erschöpfung, Überforderung, Kraftlosigkeit, Hoffnungslosigkeit – an diese Wörter denken wir zumeist, wenn wir den Begriff „Burn-out“ hören. Wachstum scheint darin nicht enthalten zu sein. Wir können dies gut mit unseren anfänglichen Gedanken an ein Burn-out in der Natur, den Waldbränden, vergleichen. Auch diese wurden über viele Jahre als schädlich und zerstörend angesehen. Heute wissen wir, dass sich die Vegetation auf abgebrannter Erde überraschend gut anpasst und erholt. Einige Baumarten pflanzen sich sogar erst dann fort, wenn die Temperaturen auf Kochplattenwerte gestiegen sind. Der Kampf um das Licht ist vorbei und gleichzeitig liefert die mineralreiche Asche einen hochwertigen Dünger und damit hervorragende Startbedingungen für das keimende Leben. Für ein Leben, das vorher nicht möglich war. Ein Burn-out bei uns Menschen hat dasselbe Potential.

Aber warum erschien es uns vorher nicht möglich? Weil wir heute in solch einer komplizierten Welt leben, die es zuvor noch nie gegeben hat. Wir sind viermal reicher und leistungsfähiger als noch vor 100 Jahren und wir haben einen enormen technischen Fortschritt und Zuwachs an Dynamik. Die Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre haben unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft komplett gewandelt. Die Zukunft lässt sich aus der Vergangenheit kaum mehr ableiten und planen, angesichts dessen, was sich in den letzten Jahren alles verändert hat. Unsere alten Denkmuster finden keinen Platz mehr. Und neue Denkmuster scheinen oftmals schwer zu finden. Diese Unsicherheit steckt keiner von uns so einfach weg. Noch dazu dann nicht, wenn die äußeren Umstände uns dazu verleiten anzunehmen, dass uns ein Leben zur Verfügung steht, welches uns glücklich machen kann, wenn wir nur hart genug daran arbeiten oder eines der vielfältigen Angebote konsumieren würden.

Unser Alltag ist kommerzialisiert und das Internet haucht ein neues Leben und eine neue Wichtigkeit ein. Wir ziehen ganz brav und ordentlich Bilanz im Leben, wenn es um Kleinigkeiten geht: Wir werten den letzten Online-Einkauf genau aus oder bewerten, wie unser Sommerurlaub war, wie schnell wir beim Joggen gelaufen sind, wie viele Likes und Klicks wir im Internet erhalten oder wie unsere Geschäftsabschlüsse waren. Überall wo wir hinsehen, leben wir mit Benchmarks, Kennzahlen, Leistungsindikatoren und Bewertungen – von der Kleidungsindustrie über die Arbeitserbringung bis hin zum Gesundheitssystem. Wir können gut benennen, wann wir erfolgreich waren und nicht. Jedoch: Wann und wie oft halten wir Rückschau auf das, was wir wirklich brauchen? Auf unsere Bedürfnisse? Auf unser Leben? Und auf unsere darin verborgenen Wünsche?

Burn-out ist nichts Schlimmes. Es ist genau der Flächenbrand, der uns erreicht, wenn wir unsere Bedürfnisse zu lange übergangen haben und sich das Wachstum in uns eingestellt hat. Unser Körper weiß, wann genug ist. Er hat eine Weisheit, die sich in einer Sprache ohne Worte ausdrückt, um sich aus der Situation herauszuarbeiten und um die Desorientierung und den Lichtmangel zu beseitigen. Dadurch wird der Boden für ein Bewusstsein und eine Achtsamkeit aufbereitet, welcher in uns neue Lebendigkeit und neues Wachstum keimen lässt, um ein Leben zu leben, welches zuvor außerhalb unserer Wahrnehmung lag.

Infos:

Evelyne Huber ist Gesundheitsjournalistin und Trainerin mit Schwerpunkt Stresserkrankungen und Burn-out. Sie führt das Online-Magazin und Beratungsunternehmen ent-scheidung.at.

Zuletzt von ihr erschienen:
Der Weg zum wahren Ich. Burn-out als Wegweiser für ein neues Lebensverständnis.
BOD Verlag

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