„Dekarboniserung mit Augenmaß“
Sofortiger Ausstieg aus den fossilen Energien? Prof. Franz Josef Radermacher, Mitglied des Club of Rome, mahnt zu einer umfassenderen Sicht. Warum, das erzählt er im Interview.
Herr Professor Radermacher, eine gängige Forderung der Klimaschützer ist „Raus aus dem Öl, und das schnell. Sie sehen eine rasche Dekarbonisierung kritisch. Warum?
Die Entwicklungs- und Schwellenländer wollen aus nachvollziehbaren Gründen die Lebenssituation ihrer Bürger verbessern. Mehr Wohlstand ist das Ziel, China hat es vorgemacht. Der daraus resultierende Energiehunger kann noch auf lange Zeit nicht alleine oder primär über erneuerbare Energien abgedeckt werden. Insbesondere können das ärmere Staaten gar nicht finanzieren. Deshalb werden fossile Energieträger noch über Jahrzehnte das Rückgrat der Weltenergieversorgung bleiben. So sieht das auch die Internationale Energie Agentur, eine Organisation der OECD. Ein rasantes Deinvestment bei fossilen Energieträgern würde daher eine Weltwirtschaftskrise nach sich ziehen. Wir brauchen stattdessen eine Dekarbonisierung mit Augenmaß – und auch für diese brauchen die Entwicklungs- und Schwellenländer viel technische und mehr noch finanzielle Unterstützung aus den reichen Ländern. Und daran hapert es massiv.
Was halten Sie von einem schnellen Ausstieg aus der Atomkraft?
Der rasche Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland in der Folge der japanischen Tsunami-Katastrophe war aus Klimasicht ein Fehler. Deutschland hat heute pro Kopf doppelt so viele CO2-Emissionen wie Frankreich. Und die Risiken eines Unfalls sind für uns weiter existent – über unsere Nachbarn. Wir hätten stattdessen die vorhandenen Kernenergie-Anlagen über die vorgesehene Laufzeit nutzen sollen und die dabei erschließbaren Sondergewinne zur Förderung der Forschung bei erneuerbaren Energien, bei den Speichertechnologien, aber auch für Lösungen zu synthetischen klimaneutralen Kraftstoffen, zum Beispiel auf Basis von Wüstenstrom – Stichwort DESERTEC 2.0 - nutzen sollen. (Anm. Redaktion: DESERTEC ist eine Vision zur Erzeugung von Ökostrom an energiereichen Standorten der Welt für den lokalen Verbrauch und die Übertragung in andere Regionen mittels Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung).
Können wir unseren Energiebedarf mit erneuerbarer Energie aus regionalen und kleinen Anlagen, wie Photovoltaik und Windkraft, decken?
Nein. Diese Lösungen sind sehr teuer. Sie verlangen „intelligente“ Netze und müssen das Problem der hohen Volatilität der erneuerbaren Stromversorgung lösen. Mal gibt es zu viel davon, mal zu wenig. Den Puffer liefert heute primär die Kohle. Aber die Pufferung ist teuer. Und je größer der Anteil der erneuerbaren Energien wird, umso schwerer wird die Finanzierung der Puffer. Nötig ist deshalb ein anderer Ansatz. Keine hundertprozentige Orientierung an strombasierten, erneuerbaren Lösungen. Statt dieser vielleicht 50 Prozent Strom und 50 Prozent synthetische klimaneutrale Kraftstoffe, zum Beispiel. auf Methanolbasis. Hier ist dann der Input dieser Kraftstoffe aus dem Sonnengürtel der Erde eine interessante Option. So sieht das übrigens auch der Weltenergierat.
Sie kritisieren die Haltung der NGOs in der Klimafrage. Warum?
Ich kritisiere die Fixierung vieler NGOs auf ausschließlich nationale Lösungen. All unser Geld und all unser Know-how wird dann für wenige Klimaeffekte bei uns investiert, während die Entwicklungs- und Schwellenländer allein gelassen werden. Die dort in den nächsten Jahrzehnten - zum Beispiel in Indien oder Afrika - zu erwartenden zusätzlichen CO2-Emissionen sind aber zehnmal so groß wie die Gesamt-Emissionen in Deutschland. Was wollen wir da bei uns bewirken? China hat es vorgemacht. China emittiert heute mehr CO2 als die USA, Europa und Japan zusammen. Die Pro-Kopf-Emissionen in China sind heute höher als in Europa. Aber es gibt in China dreimal so viele Menschen wie in Europa. Und in Indien und Afrika bald zwei- bis dreimal so viele Menschen wie in China. Auch eine deutsche Vorbildfunktion ist kein Argument. Unsere Emissionen sind doppelt so hoch wie die in Frankreich, das ist dann eher ein Vorbild - aber mit Atomkraft, und in vielen Umwelttechnologien ist China heute mindestens so weit wie wir. Wobei sie gleichzeitig in Kohlekraftwerke, Wasserstoff und Nuklearanlagen investieren.
Welche Maßnahmen können den Klimaschutz tatsächlich voranbringen?
Erforderlich ist eine weitgehend klimaneutrale Gestaltung der wünschenswerten wirtschaftlichen Wachstumsprozesse auf dem indischen Subkontinent, in Afrika und in vielen anderen sich entwickelnden Staaten der Welt. Aufforstung auf hunderten Millionen Hektar degradierter Böden und Wiedererschließung hunderter Millionen Hektar degradierter landwirtschaftlicher Flächen in der Folge von Wüstenbildung, dies gekoppelt mit Humusaufbau, sind wichtige Ansätze, um Wohlstand zu steigern, Arbeitsplätze zu schaffen, erneuerbare Ressourcen zu produzieren und der Atmosphäre mit Negativemissionen CO2 zu entziehen.
Solche großflächigen biologischen Programme verlangen allerdings Investitionen in Milliardenhöhe und Zuschüsse – letztere zum Kauf von hochwertigen Klimazertifikaten mit Co-Benefits für Entwicklung. Die neue Allianz Entwicklung und Klima von Minister Dr. Gerd Müller und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Deutschland hat diese Stoßrichtung. Sie wurde vor kurzem gestartet. Eines der Probleme: Manche NGOs argumentieren dagegen mit „Kampfformeln“ wie „Freikauf“, „Ablasshandel“, „Greenwashing“. Eine völlig verquere Sicht der Welt. Aber genau da liegen die Probleme – im Denken.
Das Interview führte: Annemarie Herzog
Infos:
Franz Josef Radermacher. Der international gefragte Redner und Mitglied des Club of Rome ist Professor für digitale Transformation an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und leitet das Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm. Sein aktuelles Buch: Der Milliarden-Joker. Wie Deutschland und Europa den globalen Klimaschutz revolutionieren können, erschienen im Murmann Verlag
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