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Weniger haben, glücklicher leben

Minimalismus ist zum Trend geworden. Die Sehnsucht nach einem einfacheren Leben bringt immer mehr Menschen dazu, ihre Besitztümer zu reduzieren.

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Foto: Istock

Es war zu viel, einfach zu viel. Windeln, Spieleteppich, Babyspielzeug und Strampler. Kinderwagen, Kuscheldecke, Spieluhr. Mit der Geburt ihres ersten Kindes vor über neun Jahren zog in Birgit Ottendorfers Leben nicht bloß ein neuer Mensch, sondern vor allem viel, viel Krempel ein. Dabei sei sie nie jemand gewesen, der blind draufloskauft. „Aber wenn ein Kind da ist, kommt automatisch viel Zeug dazu. Dinge, von denen du glaubst, sie zu brauchen, aber dann zeigt sich, dass sie gar nicht notwendig sind“, sagt Ottendorfer rückblickend. „Ich war am Anfang total überfordert: Allein mit dem Kind in der Wohnung, in der ich im Zeug fast erstickt bin.“

Als Ottendorfer kurz darauf umzog und das in Umzugskartons packte, was sie seit Jahren nicht verwendet hatte, setzte das bei ihr einen radikalen Umdenkprozess in Gang. „Ich habe mich gefragt, ob das wirklich mein Weg ist. Ob ich all diese Dinge wirklich brauche. Und ich bin draufgekommen, dass vieles mich eigentlich belastet, weil ich mich ja auch um diese Sachen kümmern muss.“ Das war 2011, als es den Trend zum Ausmisten und Entrümpeln, wie wir ihn heute kennen, zumindest im deutschsprachigen Raum noch nicht gab. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte die japanische Aufräumberaterin Marie Kondo gerade ihr erstes Buch in Japan. Vermutlich nicht ahnend, dass nur wenige Jahre später ihr Nachname als Verb („to kondo“) im Englischen zu einem Synonym für „einen Schrank aufräumen“ werden sollte und Menschen auf der ganzen Welt wie wild ihre Wohnungen nach der von ihr entwickelten „Konmari-Methode“ entrümpeln sollten.

Birgit Ottendorfer mit ihren zwei Kindern.
Birgit Ottendorfer lebt mit ihrer Familie minimalistisch. Fräulein im Glück/Birgit Ottendorfer

Minimalismus als Gegentrend

Auf ihrer Suche nach einem einfacheren Leben stieß Birgit Ottendorfer damals auf amerikanischen Internetseiten und Blogs erstmals auf Minimalismus als Gegentrend zum konsumorientierten Lebensstil. Und damit auf Menschen, die ihre Besitztümer zum Teil drastisch reduzierten und sich dadurch ein glücklicheres und weniger belastetes Leben erhofften. Menschen wie David Michael Bruno zum Beispiel, Familienvater aus den USA, der sich 2008/2009 der Herausforderung stellte, bis auf hundert Dinge all seine persönlichen Habseligkeiten zu verkaufen oder zu verschenken. Mit seinem Buch „The 100 Thing Challenge“ regte Bruno viele zum Nachdenken an: Was braucht es wirklich, um glücklich zu sein? Lebt es sich vielleicht sogar erfüllter, wenn Kommoden, Kleiderschränke, Bücherregale und Garagen weniger angefüllt sind?

Von Hardcore-Minimalisten wie Bruno lässt sich Birgit Ottendorfer heute zwar inspirieren, ihr Weg ist das aber nicht. „Mit einem Kind kann ich nicht mit nur einem Buch auf der Couch sitzen.“ Berge von Spielzeug gibt es bei Familie Ottendorfer – mittlerweile fünfköpfig – allerdings nicht. Auch keinen Fernseher, kein Auto, keine Shoppingtouren am Wochenende, nicht das neueste Handy. Die Familie lebt auf 68 Quadratmetern. Das sei klein, zwinge aber zum regelmäßigen Ausmisten, sagt die Wienerin, die über Minimalismus und Achtsamkeit in der Familie auf www.suchtdasglueck.at bloggt.

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Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung

Auch wenn die Reduktion auf das Wesentliche und die Suche nach dem einfachen Leben uralte Themen in vielen Religionen und Philosophien sind, der Minimalismustrend heute sei Produkt des modernen Lebens, sagt Karin Klug, Gesundheitspsychologin aus Graz. „Wir leben in einer Überfülle. Wir haben nicht nur viele materielle Dinge, sondern auch viele Möglichkeiten – im Beruf, in unserer Freizeit, in den sozialen Medien. Das kann uns überfordern.“ Das „Weniger“ bringe Entlastung und mache den Kopf frei: „Freiheit bedeutet ja auch Zeit, die ich zur Verfügung habe. Verbringe ich sie damit, viel zu arbeiten, um viele Dinge kaufen zu können, die dann im Weg herumstehen?“ Klug ortet im minimalistischen Lebensstil die Sehnsucht nach Selbstbestimmung. Ein bewusstes Nein zu Konsum, ein Ja zu mehr Ruhe und Erlebnissen mit anderen. So sieht es auch Birgit Ottendorfer: „Wir definieren uns heute sehr über Äußerlichkeiten. Es ist ganz normal, viel zu kaufen und zu haben. Weniger Konsum bedeutet für mich: Ich habe mehr Zeit und kann alles viel entspannter angehen.“ Als ständiges Verzichten würden Minimalisten ihren Lebensstil nicht zwangsläufig erleben: „Es geht ja darum, sich zu befreien. Dazu muss man wissen, was man braucht und was nicht. Wer zum Beispiel sein Auto verkauft, weil er es nicht braucht, verzichtet nicht, sondern gibt etwas weg, was ihm zurzeit nicht wichtig ist“, sagt die Psychologin.

Frau sitzt in der Wiese.
Viktoria Pfeiffer setzt auf Tausch und Secondhand. Foto: Pfeiffer

Eine Frage des Blickwinkels

Nur wie herausfinden, ob etwas wirklich notwendig ist oder nicht? Die Wienerin Viktoria Pfeiffer hat ihre Methode gefunden: „Wenn ich mir ein neues Kleidungsstück kaufen möchte, schreibe ich den Wunsch zuerst auf eine Liste und schaue erst dreißig Tage später wieder darauf.“ In den allermeisten Fällen habe sich der Wunsch dann bereits verflüchtigt. Auch bei Pfeiffer, die ebenfalls im Internet an ihrem Weg zum reduzierten Leben teilhaben lässt (www.viktoriapfeiffer.at), stand am Anfang das Gefühl des „Zuviels“. „Vor ein paar Jahren musste ich kaufen, damit ich glücklich bin. Nach einem anstrengenden Arbeitstag wollte ich mir etwas Gutes tun und war shoppen.“ Irgendwann merkte Pfeiffer, dass sie mit ihren Einkäufen einen inneren Mangel zu kompensieren versuchte. Dem spürte sie nach und änderte ihre innere Einstellung. „Ich übe mich darin, dankbar zu sein für das, was ich habe. Das können Dinge sein – wie mein Bett oder meine Küche – oder Begegnungen, gute Gespräche, ein schöner Spaziergang.“

Ökologischer Lebensstil

Ihren Lebensstil heute nennt Pfeiffer „alltagstauglichen Minimalismus“, von allzu engen Definitionen wie minimalistisches Leben auszusehen habe, hält sie nichts. „Jeder Mensch lebt das anders. Bei mir bedeutet es, dass ich so wenig wie möglich und so viel wie nötig konsumiere.“ Statt Fast Fashion kauft Pfeiffer jetzt meist Secondhand, sie tauscht ihre Kleidung bei Tauschpartys oder leistet sich bewusst fair gehandelte Mode. Neue Möbel hat sie sich schon lange nicht mehr gekauft, geht etwas kaputt, versucht Pfeiffer es zu reparieren. Ihre Wohnung teilt sie sich mit einem Mitbewohner, denn „67 Quadratmeter brauche ich nicht für mich alleine. Auch wenn es ungewöhnlich ist, wenn man als Nicht-mehr-Studentin in einer WG lebt.“ Das hat für sie auch ökologische Gründe: „Wenn wir alle weniger Wohnraum hätten, würde weniger verbaut und es gäbe mehr Versickerungsfläche.“

Der umweltschonende Aspekt ihres minimalistischen Lebensstils spielt auch für Birgit Ottendorfer eine wichtige Rolle. Weniger kaufen, achtsamer und selbstbestimmter leben und so auch im Kleinen etwas bewirken – das ist Ottendorfers Devise. „Viele fragen sich, ob für unsere Kinder noch etwas von der Welt übrigbleiben wird. Minimalismus ist für mich ein Weg, etwas beizutragen.“

Acht Tipps für ein einfacheres Leben

  • Schritt eins für angehende Minimalisten: Ausmisten. Methoden, um zu entrümpeln, gibt es viele. Besonders bekannt ist die von Marie Kondo. Die Japanerin regt an, jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und sich zu fragen: „Does it spark joy?“ Bereitet ein Ding keine Freude und ist es nicht unbedingt notwendig, kann es weg.
  • Selbst die umfangreichste Entrümpelungsaktion nützt wenig, wenn danach ungebremst wieder neue Dinge einziehen. Bei jedem neu aufkommenden Bedürfnis können Fragen helfen, wie „Brauche ich das wirklich?“ oder „Macht es mir wirklich längerfristig Freude?“, um den Wunsch zu reflektieren.
  • Ein Tipp von Viktoria Pfeiffer: Jeder Konsumwunsch wird auf einer Liste notiert und dreißig Tage lang aufgeschoben. Nur wenn der Wunsch nach einem Monat so stark ist wie zu Beginn, wird das Ding gekauft.
  • Nicht gleich loslaufen und Neues kaufen, sondern schauen, ob Kaputtes nicht (selbst) repariert werden kann.
  • Minimalisten schätzen den Wert der Dinge und achten darauf, gute Qualität zu kaufen, um länger etwas davon zu haben.
  • Eine Haltung der Dankbarkeit und Achtsamkeit hilft, das wahrzunehmen, was im eigenen Leben alles da ist, und sich nicht darauf zu konzentrieren, was fehlt und was andere haben.
  • Einfach leben kann auch bedeuten, den Kalender zu entrümpeln, Prioritäten (neu) zu setzen, überhöhte Ansprüche loszulassen.
  • Jeder entscheidet selbst, wie viel Minimalismus er in seinem Leben umsetzt. Ob der persönliche Besitz nun auf hundert Dinge reduziert wird oder Minimalismus ganz anders interpretiert wird: Finden Sie Ihren eigenen Weg!

Autorin: Sandra Lobnig

Artikel erschienen in LEBENSART 2/2020. LEBENSART abonnieren / diese Ausgabe bestellen.