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Muskeln lassen Neuronen wachsen

Neue Studie des MIT zeigt Nervenheilungspotential durch Bewegung und Sport - ein Hoffnungsschimmer für neurodegenerativen Erkrankungen wie ALS.

Eine Detailaufnahme der Beine einer Person, die in Turnschuhen eine Treppe hinaufgeht.
Foto: Bruno Nascimento/Unsplash

Kein Zweifel: Bewegung tut dem Körper gut. Sie kann nicht nur Muskeln aufbauen, sondern auch unsere Knochen, Blutgefäße und unser Immunsystem stärken.
Jetzt haben Forscher*innen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) herausgefunden, dass Bewegung auch für einzelne Nervenzellen gut ist. Muskeln, die sich während des Trainings zusammenziehen, setzen eine Vielzahl biochemischer Signale frei, die Myokine genannt werden. Trafen diese auf Nervenzellen, wuchsen diese viermal weiter als Neuronen, die keinen Myokinen ausgesetzt waren. Körperliche Betätigung kann also auch auf zellulärer Ebene eine bedeutende biochemische Wirkung auf das Nervenwachstum haben.

Die Nervenzellen reagieren aber nicht nur auf die biochemischen Signale des Trainings, sondern auch auf die Bewegung selbst: Werden Neuronen wiederholt hin- und hergezogen und ziehen sich ähnlich wie die Muskeln während des Trainings zusammen und dehnen sich wieder aus, so wachsen diese genauso stark, wie wenn sie den Myokinen eines Muskels ausgesetzt sind. Frühere Studien wiesen bisher nur auf den möglichen biochemischen Zusammenhang zwischen Muskelaktivität und Nervenwachstum hin - diese Studie ist die erste, die zeigt, dass physikalische Effekte ebenso wichtig sein können.

Die Ergebnisse, die in der Fachzeitschrift Advanced Healthcare Materials veröffentlicht wurden, könnten als Grundlage für trainingsbezogene Therapien zur Wiederherstellung geschädigter und nachlassender Nerven dienen.

„Jetzt, da wir wissen, dass es dieses Übersprechen zwischen Muskeln und Nerven gibt, kann es bei der Behandlung von Nervenverletzungen nützlich sein, bei denen die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln unterbrochen ist“, sagt Ritu Raman, Eugene Bell Career Development Assistant Professor of Mechanical Engineering am MIT. „Wenn wir den Muskel stimulieren, können wir vielleicht den Nerv zur Heilung anregen und die Mobilität derjenigen wiederherstellen, die sie aufgrund von traumatischen Verletzungen oder neurodegenerativen Erkrankungen verloren haben.
Raman ist die Hauptautorin der neuen Studie, an der auch Angel Bu, Ferdows Afghah, Nicolas Castro, Maheera Bawa, Sonika Kohli, Karina Shah und Brandon Rios von der Abteilung für Maschinenbau des MIT sowie Vincent Butty vom Koch Institute for Integrative Cancer Research des MIT beteiligt sind.

Muskeln sprechen

2023 konten Raman und ihre Kolleg*innen bereits die Mobilität von Mäusen wiederherstellen, die eine traumatische Muskelverletzung erlitten hatten, indem sie Muskelgewebe an der Verletzungsstelle implantierten und dieses neue Gewebe durch wiederholte Stimulation trainierten. Das trainierte Transplantat half den Mäusen, ihre motorischen Funktionen wiederzuerlangen, wobei sie ein Aktivitätsniveau erreichten, das mit dem von gesunden Mäusen vergleichbar war. Grund dafür waren die biochemischen Signale des Transplantats, die das Wachstum von Nerven und Blutgefäßen fördern.
„Das war interessant, denn wir denken immer, dass die Nerven die Muskeln kontrollieren, aber nicht, dass die Muskeln mit den Nerven kommunizieren“, sagt Raman. „Wir dachten also, dass die Stimulierung der Muskeln das Nervenwachstum anregt. Aber es gibt Hunderte von anderen Zelltypen in einem Tier, und es ist wirklich schwer zu beweisen, dass der Nerv eher wegen des Muskels wächst, als dass das Immunsystem oder etwas anderes eine Rolle spielt.“

In ihrer neuen Studie wollte das Team deshalb herausfinden, ob Muskeltraining einen direkten Einfluss auf das Wachstum von Nerven hat, indem sie sich ausschließlich auf Muskel- und Nervengewebe konzentrierten. Die Forscher züchteten Muskelzellen von Mäusen zu langen Fasern, die dann zu einem kleinen Blatt reifen Muskelgewebes von der Größe eines 25 Cent Stücks verschmolzen. Das Team veränderte den Muskel genetisch so, dass er sich als Reaktion auf Licht zusammenzieht. So konnte den Muskel kontrolliert ansteuern und ein Training imitieren.
Das Team sammelte dann Proben der umgebenden Lösung - sie enthält Myokine, darunter Wachstumsfaktoren, RNA und eine Mischung von Proteinen. „Myokine sind quasi eine biochemische Suppe von Dingen, die Muskeln absondern, von denen einige gut für die Nerven sein könnten“, sagt Raman. „Muskeln schütten so gut wie immer Myokine aus, aber wenn man sie trainiert, produzieren sie mehr.“

Eine Illustration einer Nervenzelle.
So sieht eine Nervenzelle aus. Bild: Planet Volumes/Unsplash

Bewegung als Medizin

Das Team übertrug die Myokinlösung in eine separate Schale mit Motoneuronen - den Nerven des Rückenmarks, die Muskeln steuern, die an willkürlichen Bewegungen beteiligt sind, die sie zuvor aus Mäuse-Stammzellen gezüchtet hatten. Das Ergebnis: Nervenzellen wuchsen in der Myokin-Mischung viermal schneller und auch weiter als Neuronen, die die biochemische Lösung nicht erhalten hatten.

Um genauer zu untersuchen, wie sich die Neuronen veränderten, extrahierte das Team RNA aus den Neuronen. „Wir sahen, dass viele der Gene, die in den durch das Training stimulierten Neuronen hochreguliert wurden, nicht nur mit dem Neuronenwachstum zusammenhingen, sondern auch mit der Reifung der Neuronen, damit, wie gut sie mit den Muskeln und anderen Nerven kommunizieren und wie reif die Axone sind“, sagt Raman. „Bewegung scheint sich nicht nur auf das Wachstum der Neuronen auszuwirken, sondern auch darauf, wie reif und gut funktionierend sie sind."

Dann fragte sich die Gruppe: Könnten die rein physischen Auswirkungen von Bewegung einen ähnlichen Nutzen haben?

„Die Neuronen sind physisch mit den Muskeln verbunden, sie dehnen und bewegen sich mit den Muskeln“, sagt Raman. „Wir wollten herausfinden, ob es sich auf das Wachstum auswirkt, wenn wir die mechanischen Kräfte des Trainings nachahmen."
Um diese Frage zu beantworten, züchteten die Forscher eine weitere Gruppe von Motoneuronen, die sie mit winzigen Magneten versahen, um mit einem externen Magneten 30 Minuten pro Tag ein "Training" zu simulieren. Diese mechanische Übung regte die Nervenzellen genauso stark zum Wachstum an wie die Myokine.

„Das ist ein gutes Zeichen, denn es zeigt uns, dass sowohl die biochemischen als auch die physischen Auswirkungen von Bewegung wichtig sind“, sagt Raman.
Als nächstes möchte das Team nun erforschen, wie gezielte Muskelstimulation eingesetzt werden kann, um geschädigte Nerven wachsen und heilen zu lassen - dies könnte die Mobilität von Menschen wiederherzustellen, die mit einer neurodegenerativen Erkrankung wie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) leben.
„Dies ist nur unser erster Schritt zum Verständnis und zur Kontrolle von Bewegung als Medizin“, sagt Raman.