Kunst auf Krankenschein?
Warum singen, tanzen und malen das beste Rezept sind. Ein Interview mit Edith Wolf-Perez und Bea Robein aus dem Vorstand von Arts for Health Austria.
Wer sich bei Herzschmerz schon einmal in Liedern ergangen hat, die „love“ in großen Lettern im Titel tragen, weiß über die heilende Kraft der Musik gut Bescheid. Wie weit ihre Wirkung – und jene ihrer künstlerischen Geschwister – darüber hinausgeht, ist vielleicht weniger bekannt. Seit der Jahrtausendwende zeigt eine Strömung, dass Kunst in vielen Gesundheitsbereichen gezielt eingesetzt werden kann und dort enorm viel bewegt: Arts for Health. Wir haben mit Edith Wolf-Perez und Bea Robein aus dem Vorstand von Arts for Health Austria darüber gesprochen, was Kunst und Kultur für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden leisten können.
LEBENSART: Wie hängen Kunst und Gesundheit zusammen?
BEA ROBEIN: Kunst ist, wie gesunde Ernährung und Bewegung, essenziell für unser Leben und Überleben. Seit es Menschen gibt, haben wir Kunst gemacht und sie zur Heilung genutzt – Kunst war immer ein Teil von uns, die Venus von Willendorf nie eine Statue hinter Glas, sondern etwas, was man in die Hand genommen hat. Die Forschung weist heute ganze 137 Wirkstoffe nach, die wir produzieren, wenn wir künstlerisch tätig sind. Wenn wir singen oder tanzen, erzeugen wir körpereigene Cannabinoide – milde Rauschmittel. Dopamin, Oxytozin und Serotonin setzen nicht nur wir Künstler*innen frei, sondern auch alle, die uns zusehen oder zuhören. Was wir damit auslösen, bei Leuten, die Schmerzen haben! Für jemanden, der zum Beispiel Neuropathien hat, ist das ein Geschenk: für eine Zeit weniger Schmerzen spüren. In einem Konzert sitzen können, wenn Sitzen sonst unmöglich ist. Auch wenn es nur temporär ist. Mit der Forschung können wir das nachweisen und sagen: Professionalisieren wir das.
Kunst ermöglicht uns auch, in einem Moment voll da zu sein – sie richtet die Wahrnehmung auf eine andere Ebene. Achtsamkeit ist in dieser reizüberfluteten Zeit eine Herausforderung. Die Kunst birgt für mich ein Zur-Ruhe-Kommen in sich.
Singen, tanzen – weil es so simpel ist, denken wir oft, dass es nichts bewirken kann – in Wirklichkeit wirkt es aber enorm.
Edith Wolf-Perrez
Da zu sein, jenseits von Krankheit oder Einschränkungen, ist auch für die Begleitung vieler Krankheiten wichtig – wenn Alzheimer-Betroffene und ihre Familien zusammen tanzen oder singen, sind das Momente, wo der Mensch wieder da ist. Er ist nicht mehr der oder die Kranke, der sein ganzes Leben vergessen hat, sondern wieder meine Mutter oder mein Vater. Es ist ein Moment, den man mit seinen nächsten verbringt, in dem die Person wieder sichtbar wird. Alzheimer und Demenz sind für alle Beteiligten eine unglaubliche Last. Momente teilen und Abschied nehmen zu können, ist sehr wertvoll.
EDITH WOLF-PEREZ: Es ist erwiesen, dass Kunst auf vielen Ebenen hilft: In der Prävention und Gesundheitsförderung, für das Bewusstmachen von Gesundheitsthemen, für das Management von chronischen und die Behandlung von akuten Krankheiten. Ein Kollege hat ein Programm für Menschen in der Intensivstation entworfen, die in der Phase des Aufwachens sind. Dabei wird Musik gespielt, die in Echtzeit durch das Feedback, das vom Menschen kommt, komponiert wird. Dies verkürzt die Aufwachphase – und je kürzer diese ist, umso besser für den Organismus.
Die Rolle von Kunst geht aber noch darüber hinaus – zum Beispiel bei der Bewältigung von Trauer oder Traumata oder bei der Arbeit mit geflüchteten Menschen. In einem Schulprojekt mit Deutschförderklassen tanzen wir mit Jugendlichen, die kaum Deutsch können. Die Lehrer*innen sind nach jeder Stunde baff, wie viel wir erreichen. Meine Kollegen glauben eher, gar nichts weiterzubekommen (lacht) – weil wir Künstler*innen immer Vollgas geben möchten. Die Jugendlichen dazu gewinnen, ist natürlich harte Arbeit. Du musst sie heranführen – wenn du sagst „Wir gehen tanzen“, dann pfeifen sie dir etwas. In dieser Schule haben wir auch mehr Burschen als Mädchen, weil viele Mädchen an Tanz nicht teilnehmen dürfen. Das ist eine gesellschaftliche Komponente, Herausforderungen, vor denen wir stehen. Es ist nicht einfach, wenn die Sprache, das Verständnis nicht da sind – man fängt von Null an. Die Kunst kann Brücken bauen, bei der Verständigung helfen und eine andere Art von Gruppendynamik entstehen lassen.
BEA ROBEIN: Das kann auch bei der Nachhaltigkeitsarbeit sein. Beim SDG-Dialogforum haben Jugendliche einen Workshop gemacht – mit Theater, Malerei, Musik. Sie haben einen Poetry Slam mit ihren Forderungen gemacht. Das war sehr spannend. Kunst ermöglicht, Gefühle zu durchleben, die du nicht selbst erleben musst. Das bringt dich weiter – zum Beispiel im Theater mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund, weil sich alle gleich ausdrücken können. Das ist wahnsinnig stark – auch als Mittel der Integration. Bei Kunst ist auch sehr viel Disziplin dabei, aber kein Druck.
Die Leidenschaft, die Künstler*innen mitbringen, ist sehr ansteckend.
Bea Robein
EDITH WOLF-PEREZ: Sie ist Disziplin aber kein Drill. Wir legen viel Wert auf die Sprache, aber vergessen dabei, dass wir außer der Sprache auch noch andere Kompetenzen besitzen, die in unserer Gesellschaft zu kurz kommen. Wir müssen sie reaktivieren, damit wir einen ganzheitlichen Zugang gewinnen – zueinander und zur Gesellschaft. Nur so können wir zueinander finden. Mit Worten steht man schnell im Konflikt.
LEBENSART: Von der Prävention über die Arbeit mit Kranken bis zur Integration – das ist ein sehr großes Feld. Können Künstler*innen das mit ihrem Know-How stemmen?
EDITH WOLF-PEREZ: Wenn wir mit Menschen arbeiten, die Parkinson oder Demenz haben, schauen wir nicht auf die Symptome. Es ist uns nicht wichtig, ob sie sich erinnern oder nicht. Wir passen die Arbeit so an, dass es für sie etwas bringt. Allerdings sollten Künstler*innen über ein Grundlagenwissen verfügen, um den richtigen Zugang zu finden. Die Weiterbildung ist entscheidend – denn in einer Situation, in der es es notwendig ist, muss man sich auskennen.
LEBENSART: Ihr betont oft, dass Arts for Health eine Intervention, keine Therapie ist. Was bedeutet das?
EDITH WOLF-PEREZ: Es gibt im Englischen eine schöne Unterscheidung zwischen „heal“ und „cure“. Du kurierst durch Kunst keine Krankheiten – du gehst nicht zu einem Punkt zurück, wie es vorher war, sondern nimmst an der Entwicklung, die dein Körper macht, teil, egal ob du gesund bist oder nicht. Du begleitest deinen Zustand – geistig, psychisch, körperlich – mit der Kunst.
Mit ihr hat man auch ein Instrument an der Hand, das im Gegensatz zu einer Medikation keine Nebenwirkung hat. Sie kann deshalb sehr schnell eingesetzt werden. Egal welcher Facharzt jetzt zum Beispiel für Long-Covid mit seinen 200 Symptomen zuständig ist und egal, ob es tatsächlich Long Covid oder Fatigue Syndrom an sich ist – du könntest Kunst sofort einsetzen, mit Studien begleiten, um zu sehen, ob sie wirkt. Die einzige Nebenwirkung ist, dass es dir nicht gefällt. Und dann hörst du einfach auf.
BEA ROBEIN: Durch die Forschung können wir dem Hirn zuschauen und sehen, dass es richtig aufleuchtet, wenn du Kunst machst. Alles verbindet sich. Der Sport kommt dem nahe, aber nicht so nah wie die Kunst. Das ist etwas, was wir uns zunutze machen müssen.
EDITH WOLF-PEREZ: Kunst ist auch sanfter als Sport. Sport hat tolle soziale Effekte, ist aber häufig sehr kompetitiv. Gerade für die ältere Generation braucht es etwas anderes.
LEBENSART: Welche Barrieren gibt es, Arts for Health im Gesundheitssystem zu etablieren?
BEA ROBEIN: Das Totschlagargument ist oft das Finanzielle. Aber auch dazu gibt es viele interessante Zahlen. In England hat man gesehen, dass 25 Prozent der Leute aus nichtmedizinischen Gründen zum Arzt gehen, weil sie einsam sind.
EDITH WOLF-PEREZ: Weil Einsamkeit viele Symptome auslöst.
BEA ROBEIN: Genau. Deshalb haben sie eine Anamnese gemacht, die Interessen abgefragt und diejenigen ohne offensichtliche medizinische Symptome zu einem Club überwiesen – in England gibt es viele organisierte Gruppen wie den Book-Club, den Chor, den Gardening-Club – 80 Prozent davon waren kunst- und kulturorientiert, 20 Prozent waren Clubs zum Thema Garten und Sport. Nach zwei Jahren hat man festgestellt, dass jene Leute, die „Kunst auf Rezept“ bekommen haben, 37 Prozent weniger zum Arzt und 27 Prozent weniger ins Krankenhaus mussten. Jedes investierte Pfund hatte eine soziale Rendite von 4 bis 11. Das zeigt auch die Systemrelevanz von Kunst und Kultur.
EDITH WOLF-PEREZ: In Holland ist man sich der Kosten des Gesundheitssystems bewusst, da wirken ökonomische Überlegungen ebenso. Ein Partner hat ausgerechnet, wenn du für Tanzstunden 10.000 Euro zur Verfügung stellst und nur bei einer Person verhinderst, dass sie ins Altersheim muss, hast du dem Staat 75.000 Euro gespart.
BEA ROBEIN: In den USA zeigt eine aktuelle Studie, dass jeder Museumsbesuch einen sozial-gesellschaftlichen Wert von über 900 Dollar darstellt – sogar, wenn die Leute unwillig ins Museum geschleppt werden. Natürlich sollte man diese Geldwerte kritisch betrachten, aber es ist wichtig zu zeigen, was möglich ist.
LEBENSART: Sind bei Arts for Health Austria alle Kunstrichtungen vertreten?
BEA ROBEIN: Unsere ersten Projekte haben sich mit Long-Covid beschäftigt, dadurch hat sich ein Schwerpunkt auf Tanz und Musik ergeben. Wir kennen aber in allen Feldern jemanden, möchten alle Künste und alle Richtungen dabeihaben.
EDITH WOLF-PEREZ: Das ist wichtig, weil unser Hauptaugenmerk die Freude am Tun ist – es muss dir passen. Wenn du nicht gerne singst – vielleicht findest du dein Wohlbefinden in der Malerei, vielleicht machst du gern Filme …
BEA ROBEIN: … oder Theater. Vielleicht schreibst du gerne oder töpferst etwas. Jede*r hat eine Präferenz. Sich mit einer Kunstrichtung auseinanderzusetzen, stärkt auch die Perspektive für andere – vielleicht findest du dann noch zum Singen. Jeder Künstler, jede Künstlerin ist der beste Vermittler, die beste Vermittlerin seiner Kunst. Die Leidenschaft, die Künstler*innen mitbringen, ist sehr ansteckend.
EDITH WOLF-PEREZ: Nachdem Kunst so eine persönliche Sache ist, hilft die Kunst, bei der du am besten andockst. Im psychiatrischen Bereich ist beispielsweise die bildende Kunst stark, weil sie eine Form des individuellen Ausdrucks darstellt, während für andere Themen der soziale Aspekt von Tanz oder Gesang wichtig ist.
LEBENSART: Muss ich für die positiven Aspekte mitmachen oder kann ich auch nur zuhören oder zuschauen?
BEA ROBEIN: Beim Singen hilft bereits das Zuhören sehr gut – selbst mitzumachen verstärkt jedoch die Wirkung.
EDITH WOLF-PEREZ: Das Musikerlebnis wird intensiver, wenn du dich dazu bewegen kannst.
BEA ROBEIN: Das ganze Konzept, sich brav hinzusetzen – hör dir Vivaldis „Jahreszeiten“ an! Das ist die beste Headbanging-Musik, die es gibt. Man hat es in sich, sich bei einem Konzert zu bewegen! Man kann auch dabei einschlafen und es ist auch in Ordnung, wenn man sich dem ganz hingibt. Aber man würde sich wünschen, sich öfter ein wenig mehr bewegen zu können.
LEBENSART: Manche Leute haben Berührungsängste mit Kunst und Kultur, wie hilft man sich?
EDITH WOLF-PEREZ: Sich die Zeit und den Raum geben. Ich habe einmal in einem psychiatrischen Krankenhaus unterrichtet, da war eine Frau, die wollte nur dabei sein und zuschauen, nicht mitmachen. Das war ok. Und eines Tages, was auch immer der Auslöser war, steht sie auf und beginnt, sich zu bewegen. Sie hat fünf Wochen gebraucht – manchmal braucht es Zeit. Es sind Einladungen, die wir aussprechen und es dauert manchmal länger, um eine Einladung zu folgen. Diese Zeit darf man sich geben – es ist ganz normal, zuerst einmal hinten zu stehen und dann erst dazuzukommen.
BEA ROBEIN: Manchmal hilft auch die Gemeinschaft – sie hat Masse und Macht, sie nimmt einen mit. Angebote, die Barrieren abbauen, helfen natürlich. Für Senior*innen und Kinder gibt es das manchmal, aber es bräuchte auch Programme für Leute, die neu nach Österreich kommen, für Menschen mit Migrationshintergrund. Wir könnten damit unsere Kultur kommunizieren und sie ihre. Wir könnten uns austauschen, könnten herausfinden, was uns wichtig ist und wo wir uns treffen können.
LEBENSART: Das klingt, als sollten Kunst und Kultur überall sein?
EDITH WOLF-PEREZ: Wir müssen sie wieder viel mehr ins Leben integrieren. Wir haben sie in unsere wunderbaren Kulturtempel ausgelagert und müssen sie wieder zurückbekommen. Dazu gibt es seit den 60er Jahren eine Bewegung, die Community Arts. Wir haben bei uns daraus die „Kulturvermittlung“ gemacht – ein Begriff, in dem wieder eine Hierarchie steckt, auch wenn diese nicht so beabsichtigt ist. Eigentlich müssen wir Künstler*innen, Zuhörer*innen und all jene, die mitmachen, wieder auf eine Ebene bringen.
BEA ROBEIN: Alle Teilnehmer*innen sind Künstler*innen – Artists in the making. Jetzt ist wichtig, die Kunst wieder in den Alltag zu holen: Dass man einfach auf die Mariahilfer Straße gehen kann, so wie man dort in Geschäfte oder Cafés geht, und sich dort seine Mikrodosis Kunst abholen kann. Kurz etwas zeichnen, kurz etwas hören, kurz aussteigen – das würde uns guttun. Wir müssen das anders denken – nicht als Sonntag im Museum, sondern jeden Tag. Wien ist wunderbar mit seinem Angebot – aber das wird von vielen rein als Hochkultur wahrgenommen und schreckt ab, daran aktiv teilzunehmen. Zwar geschieht dort viel, um alle willkommen zu heißen, aber in diese Richtung muss es noch weitergehen – bis dorthin, wo Leute mitmachen können.
Wir müssen Kunst wieder viel mehr ins Leben integrieren. Edith Wolf-Perez
EDITH WOLF-PEREZ: Community Arts wird sehr oft auch abgewertet. Natürlich – du wirst nicht die Virtuosität erreichen, die du in der Staatsoper hörst, aber der Prozess, wie Kunst entsteht, wie kreative Impulse in eine Form gegossen werden – das ist die Kunst. Du wirst immer nach dem bestmöglichen Ergebnis trachten, denn das ist die Kunst auch. Sie gibt sich nicht mit Halbheiten zufrieden – wenn es noch eine Probe, noch einen Versuch braucht, dann machen wir sie. Aber natürlich sind andere Erwartungshaltungen dahinter. Wichtig ist bei Community-Arts-Projekten, dass alle Menschen, die mitmachen, involviert sind – dann ist ein Projekt gelungen. Um Virtuosität geht es dabei nicht.
Menschen in die Kunst und Kultur mitzunehmen, die Berührungsängste sind auch eine Generationenfrage. Ich merke das beim Tanzen – die jungen Leute tanzen. In unserer Generation war das nicht so.
BEA ROBEIN: Die GenZ sagt zu 85 Prozent von sich, kreativ zu sein. Bei den älteren Generationen sind das viel weniger, vielleicht 25 Prozent. Das hat sich verändert.
EDITH WOLF-PEREZ: Sommer- und Tanzfestivals, wo alle angesprochen werden, mitzumachen, haben viel verändert. Das bereitet uns einen guten Boden, den nächsten Schritt zu machen und zu schauen, was das bewirkt. Es geht ja nicht nur darum, dass wir alle eine gute Zeit haben, sondern um den Effekt.
LEBENSART: Wenn ich nicht krank bin, brauche ich Kunst trotzdem?
EDITH WOLF-PEREZ: Ja, um deine Gesundheit zu erhalten und dein volles geistiges, seelisches und körperliches Potenzial auszubilden.
BEA ROBEIN: Kunst setzt so viele Prozesse in Gang – sie erweitert die Perspektive und hat so viele Auswirkungen, weil wir unsere körpereigenen Technologien nutzen. Zum Beispiel unsere kognitive Reserve. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen: Geht man sechs bis acht Mal im Jahr ins Museum oder zu einer künstlerischen Veranstaltung, dann verringert sich die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, um 40 Prozent. Kinder, die ab sechs Jahren ein Instrument spielen, sind deutlich besser vor Krankheiten wie Alzheimer geschützt.
EDITH WOLF-PEREZ: Eine sinnvolle, kreative Beschäftigung kann Jugendlichen mit psychischen Belastungen helfen. Kunst arbeitet mit den Ressourcen, die Menschen mitbringen, nicht an den Defiziten. Dies hilft besonders jungen Menschen und besonders in Umbrüchen, wie die Pubertät einer ist. Sie begleitet einen Selbstfindungsweg.
BEA ROBEIN: Junge Menschen in der Pubertät, die einmal im Monat einer künstlerischen Betätigung nachgehen, haben 25 Prozent bessere Voraussetzungen, diese Zeit gut zu meistern. Wenn sie es wöchentlich machen, sind es sogar 65 Prozent.
Wir sind alle mental belastet – seit COVID noch mehr – ein bisschen zu singen, ein bisschen zu doodeln, ein Haiku zu schreiben oder einmal in ein Museum zu gehen – das alles ist niederschwellig und trotzdem sind die Auswirkungen groß. Es macht etwas mit uns, es kann uns in Zukunft Medikamente oder Krankheiten ersparen …
EDITH WOLF-PEREZ: … oder den Prozess hinauszögern, bis ich nicht mehr selbstständig leben kann. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich mit 70 oder 90 so weit bin. Und auch wenn es nur fünf Jahre sind, sind fünf gesunde, autonome Jahre viel wert. Neues lernen, Neues ausprobieren, neugierig sein, neue Kontakte knüpfen, alte Kontakte vertiefen: Das sind die Zutaten zum Wohlbefinden.
LEBENSART: Arts für Health ist eine Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesundheitseinrichtungen. Was braucht es an dieser Stelle?
EDITH WOLF-PEREZ: Verständnis. Zusammenarbeit.
BEA ROBEIN: Offenheit. Das Interdisziplinäre, das gemeinsame Erschaffen, wünschen wir uns sehr. Diese Öffnung war während COVID da, seither ist jeder wieder sehr mit seinem Feld beschäftigt. Die Kunst- und Kulturszene ist sehr offen und auch die Wissenschaft ist immer glücklich, wenn man mit etwas Neuem kommt.
EDITH WOLF-PEREZ: Auch die Menschen mit denen wir beim Gesundheitsministerium, bei der ÖGK reden, sind sehr aufgeschlossen, aber sie wissen nicht, wo sie uns unterbringen können. Der Gesundheitssektor ist wahnsinnig reglementiert, wahnsinnig aufgesplittet, das erschwert die Koordination.
BEA ROBEIN: Mit Aufatmen waren wir der Meinung, dass wir in spätestens einem Jahr bei den Trägerorganisationen drinnen sein könnten und die Versicherungen einsteigen. So war das nicht. Es kommt langsam aber auch bei uns zu einem Umdenken – Unternehmen bemerken, dass in der Prävention, zum Beispiel in der Burn-out Prophylaxe – Yoga- und Sportangebote nicht mehr ausreichen. Deshalb suchen sie nach neuen, qualitätsvollen Angeboten.
LEBENSART: Wie ist das in anderen Ländern?
EDITH WOLF-PEREZ: Einige Länder, wie England, haben 25 Jahre Vorlaufzeit. Aber es ist nicht so, dass die Kunst dort unbedingt schon ganz im Gesundheitssystem angekommen ist – jedes Land hat Nischen, die es besetzt, wie das „Social Prescribing“ Programm in England. Dort gibt sehr viele sehr gut finanzierte Projekte. In Dänemark ist die Musiktherapie in allen Hospizen vertreten.
Finnland ist am weitesten, weil es auf der administrativen Ebene angefangen und Schnittstellen zwischen Wissenschafts-, Kunst- und Gesundheitsministerium geschaffen hat. Sie arbeiten dadurch gleich an der höchsten Ebene. Aber auch in Spanien und Portugal gibt es eine gute Szene – nur wissen wir leider sehr oft nichts voneinander. Ein generelles Problem: Es gibt auch hierzulande tolle Projekte, aber sie passieren nicht vernetzt und deshalb tun wir uns so schwer gehört zu werden. Nur eine gemeinsame Anstrengung wird uns als Bewegung etablieren können.
LEBENSART: Was braucht es in Österreich, um Arts for Health zu etablieren?
EDITH WOLF-PEREZ: Die Vernetzung zu schaffen – dafür benötigen wir aber eine Basisfinanzierung, weil das eine durchgehende Arbeit ist, die nicht auf Projektbasis gemeistert werden kann. In England gibt es eine Datenbank mit allen Angeboten, zum Beispiel für Demenzkranke. So etwas wäre hilfreich.
BEA ROBEIN: Es braucht auch einen ausgesprochenen Willen, der verschiedenen Player. Zu sagen: Wir sind DAS Kulturland in Europa, wir haben ein tolles Gesundheitssystem, zeigen wir doch, wie wir das Thema in das 21. Jahrhundert bringen. Österreich könnte hier Vorreiter sein.
LEBENSART: Euer bekanntestes Programm ist Aufatmen. Worum geht es dabei?
BEA ROBEIN: Aufatmen ist ein Atem- und Musikprogramm für Long-Covid, das sechs Wochen dauert und in Kürze auch von der WHO empfohlen werden wird. Long-COVID und COVID sind sehr behaftet in Österreich – es gibt keine offiziellen Zahlen, anders als in England, wo es 90 Long-Covid Kliniken gibt, die die Menschen an das Schwesternprogramm BREATHE weiterleiten. Hierzulande ist es ein sehr langer Prozess bis es übernommen wird, deshalb bieten wir es derzeit zu einem Selbstkostenpreis in der nun sechsten Runde an – der Verein arbeitet dabei ehrenamtlich.
EDITH WOLF-PEREZ: Das österreichische Gesundheitssystem ist nicht nur so, dass neue Methoden schwer Zugang finden, sondern auch, dass neue Krankheiten schwer erfasst werden – wie Long-Covid. Es gibt keine Nummer dafür, und daher auch wenig Behandlungsmöglichkeit – auch wenn die Krankheit jetzt seit drei Jahren hier ist. Unser Gesundheitssystem ist in vielen Punkten großartig, aber da sind wir sehr hinterher. Wir sind jetzt in einer Zeit, wo man die Sachen anders angehen muss, weil dies auch nicht die letzte Pandemie sein wird.
BEA ROBEIN: Aufatmen hat Tools, die für all das wichtig sein könnten. Wir nennen es Atem- und Musikprogramm, weil bei der Vorstellung zu singen manche Panik bekommen. Aber das Singen ist dabei tatsächlich nur Mittel zum Zweck – wenn man länger aus- und einatmet, wie man dies beim Singen tut, dann wirkt dies auf Herzfrequenz und Blutdruck. Deshalb braucht man auch gar keine musikalischen Vorkenntnisse, beim Singen fällt uns dieses Atmen nur besonders leicht. Unsere Teilnehmer*innen konnten teilweise keine Stockwerke mehr nach oben gehen, oder wurden in einer normalen Gesprächsgeschwindigkeit kurzatmig. Das wird bei den meisten in den sechs Wochen schon signifikant besser. Besonders schlimm hat es jene in der ersten Covid-Welle erwischt, mit der Urform des Virus. Das es wirklich noch Ärzte gibt, die sagen, dies sei psychosomatisch, ist schlimm. Zu einem überwiegenden Teil (65 bis 70 Prozent) betrifft es Frauen – da sehen wir die Gender Bias in der Medizin, die ein sehr großes Problem darstellt. Nicht nur was Long-Covid anbelangt, sondern auch bei ME/CFS. Das gibt es nun endlich verstärkt Forschung, aber es wird auch noch dauern.
EDITH WOLF-PEREZ: Man tendiert, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Natürlich hat eine Krankheit wie Long-Covid einen psychologischen Effekt, weil du nicht mehr gut atmen kannst. Aber dieser Effekt ist nicht die Ursache. Da wird gerne Psychosomatik unterstellt – besonders Frauen. Hysterie habe ich auch schon gehört.
BEA ROBEIN: Deshalb ist im „Aufatmen“-Programm auch der Austausch bei jedem Treffen so wichtig – dort dürfen die Leute sagen, wie es ihnen geht, sie müssen nichts erklären. Jemand der nicht Long-Covid hat, versteht nicht, wie ein junger Mensch mit 25, der früher Berge bestiegen hat, heute entscheiden muss, ob er den Geschirrspüler ausräumt und die Küche sauber macht oder einkaufen geht, weil nicht beides möglich ist. Das ist für die Betroffenen, die Angehörigen, furchtbar schwer und hat auch ein Stigma.
LEBENSART: Singen liegt ja nicht allen. Wie geht es den Teilnehmer*innen damit?
BEA ROBEIN: Wir bestärken immer darin, dass das Singen Mittel zum Zweck ist. Die meisten Treffen fanden bisher online statt – und dabei schalten wir schon wegen der Verzögerung die Mikros aus. Man ist also im geschützten Raum. Das hilft vielen, denn am Anfang ist man scheu. Viele, die zu Beginn gegen das Singen sind, sind aber auch die, die später fragen, ob wir nicht mehr singen können. Wir hatten einen Teilnehmer, der singt jetzt in der Arbeit mit seinen Kollegen, weil er gemerkt hat, dass er eine schöne Stimme hat. Oder eine Klientin, der von ihrem Arbeitgeber nahegelegt wurde, das Programm zu besuchen: Sie war skeptisch: „Singen? Was soll das? Ich habe eh so viel zu tun, ich bin überfordert.“ Und beim Endgespräch hat sie gesagt, dass sich ihr Leben verändert hat. Dass sie früher so „zu“ war, mit so einen Druck auf der Brust. Jetzt kann sie in ihrer Familie über Dinge sprechen, sie hat wieder Spaß und sie nutzt die Übungen oft – denn man bekommt Tools mit, die man weiterhin nutzen kann. Dafür zahlt sich jede Mühe aus.
Es gibt für Long-Covid auch reguläre Therapien und Reha, aber in ein Gerät hineinzuatmen und damit Übungen zu machen ist etwas ganz anderes. In unserem Pilotproramm haben wir die Lungenfunktion messen lassen. Bei jüngeren sind die großen Unterschiede sofort da, aber bei Teilnehmer*innen über 35 dauert es länger als die sechs Wochen, dass in der Lungenfunktion wirklich Veränderungen zu sehen sind. Aber auch alle, bei denen sich körperlich noch nichts so viel verändert hatte, fühlten sich subjektiv besser – sie fühlten sich wieder stärker so, wie sie sich selbst kannten. Das subjektive Empfinden, das deinen Körper mitnimmt, ist wichtig.
EDITH WOLF-PEREZ: Das Wohlbefinden. Man denkt sich oft, Singen, Tanzen, ja eh. Weil es so simpel ist, denken wir oft, dass es nichts bewirken kann – in Wirklichkeit ist das aber enorm.
LEBENSART: Nicht alle Menschen haben Zugang zu Kunst und Kultur.
EDITH WOLF-PEREZ: Deshalb ist es so wichtig, dass wir das in der Schule haben. Künstlerische Fächer aus dem Curriculum zu streichen, ist ein Verbrechen. Du nimmst den Kindern unglaubliche Chancen. Deshalb gehen wir auch in die Schulen, um mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Außerhalb bekommst du auch keine gemischten Gruppen, mit unterschiedlichen Herkunftsländern. Dabei ist genau das wichtig.
BEA ROBEIN: Kinder, die keinen kulturaffinen Haushalt haben, bleiben sonst auf der Strecke. JeKi - jedem Kind sein Instrument – war ein großes Projekt in Deutschland, wo alle Kinder ab der Volkschule ein Instrument lernen konnten. Das war das beste Integrationswerkzeug – das Projekt wurde von der Universität in Frankfurt begleitet – es brachte alle auf die gleiche Ebene. Allein die Motorik – es gibt immer mehr Kinder, die in die Vorschule kommen, und keinen Bleistift halten können. Die Kinder lernen auch gemeinsam laut sein, gemeinsam leise sein, gemeinsam atmen – das war ein unglaublicher Erfolg. Man hat aber auch gesehen, dass man wirklich mit sechs anfangen muss, die Kinder an die Instrumente heranzuführen, weil die Jungs mit 8 oder 9 aussteigen, wenn sie sich zwischen Sport und Musik entscheiden müssen. Ich finde es wahnsinnig schade, dass Kunst und Sport oft so gegeneinander ausgespielt werden, wo sie so gut zusammenarbeiten könnten.
EDITH WOLF-PEREZ: In England gab es ein Projekt – Sing up – das 95 Prozent der Grundschulen erreicht hat. Es verbessern sich dadurch auch die akademischen Fähigkeiten!
BEA ROBEIN: Deshalb ist es so schade, wenn sich Kinder zwischen Malen, Musik und Sport entscheiden müssen – oder gar keinen Zugang dazu haben. Früher wurde auch zuhause mehr gesungen – das wird nur noch selten weitergegeben. Ich würde deshalb wahnsinnig gerne auch die Eltern einbinden – weil man sich auch als Familie anders versteht, wenn man gemeinsam musiziert.
EDITH WOLF-PEREZ: Es gibt viel zu tun!
Das Interview führte Michaela R. Reisinger.
ARTS FOR HEALTH AUSTRIA
Der Verein wurde 2019 gegründet und versteht sich als Plattform für Kunstaktivitäten im Public Health Bereich in Österreich, als Schnittstelle zwischen Künstler*innen, Forscher*innen und Gesundheitseinrichtungen sowie als nationales und internationales Vernetzungsinstrument und Anlaufstelle für alle an diesem Bereich Interessierte.