Das Regenerativ
Wie unsere evolutionäre Geschichte zu einer guten Zukunft führen kann.
Nagt der Hamster an den Gitterstäben, ist er gelangweilt oder gestresst. Wie das bei uns Menschen aussieht, was eine lebensfreundliche Umwelt wäre und wie uns unsere evolutionäre Geschichte zu einer guten Zukunft führen kann, erzählt Dr. Martin Grassberger, Humanökologe und evolutionärer Mediziner, Autor von „Das leise Sterben“ (Wissenschaftsbuch des Jahres 2020), „Das unsichtbare Netz des Lebens“ und „Regenerativ“.
LEBENSART: Eine persönliche Frage vorweg: Sie sind Mediziner als auch Biologe – wie sind Sie zu dieser Kombination gekommen?
In Ihrer Biografie steht als Fachgebiet auch Evolutionäre Medizin. Was bedeutet das?
Sie sagten in einem Interview einmal, wir „müssen dem Menschen sein Habitat zurückgeben“ – was ist das menschliche Habitat und was bedeutet eine artgerechte Haltung für Menschen?
In Ihrem Buch „Das leise Sterben“ schlagen Sie eine Brücke von der Zerstörung der Natur und der Zunahme von chronischen Krankheiten. Welche chronischen Krankheiten sind am klarsten mit der Umweltkrise verknüpft?
Heißt das, wir müssen zurück in die Steinzeit?
Den Naturbegriff könnten wir eine ganze Stunde philosophisch erörtern - ich betrachte alle lebendigen Systeme, inklusive des Menschen und seiner selbstgeschaffenen Systeme, als die Natur. Auch unsere Kulturleistungen sind Teil der Natur, weil sie von einem Tier erschaffen worden sind.
„Es geht darum vorsichtig in eine andere Richtung zu fahren. Jeden Tag Natur wieder miteinfließen zu lassen.“
Was ist dann eigentlich nicht mehr Teil der Natur?
Was macht es schwierig?
Wer bin ich, wo komme ich her und wo werde ich hingehen? Das sind die zentralen Fragen der Menschheit. Der Mensch ist vermutlich das einzige Lebewesen, das weiß, dass es einmal sterben wird. Wir haben insgesamt ungefähr 4.000 Lebenswochen zur Verfügung und wir entscheiden: Was will ich tun mit dieser verfügbaren Zeit, was macht mich im Kern tatsächlich glücklich? Da kommt man relativ schnell darauf, dass das mit ausreichender Ernährung, mit einem Dach über dem Kopf und mit sozialen Beziehungen zusammenhängt - und nicht mit dem Auto oder mit "schneller, größer, mehr, höher".
Das hat sich sogar in den letzten Jahren verschlechtert - weil sich diese globale Megamaschine noch schneller weiterentwickelt hat - exponentiell und in immer kürzeren Intervallen. Vor einem Jahr haben wir über künstliche Intelligenz noch nicht wirklich viel geredet und jetzt wird sie von vielen Menschen benutzt. Alles innerhalb von einem Jahr.
Die Frage ist, wie schnell wir uns an so etwas überhaupt anpassen können. Ich bin ein großer Freund der sogenannten Technikfolgenabschätzung, dass man sich retrospektiv ansieht, wie oft wir zu schnell Wege eingeschlagen haben, die sich im Nachhinein als ungünstig herausgestellt haben.
Hat sich seit Erscheinen des ersten Buches – in den letzten fünf Jahren – etwas an dieser Situation verändert?
Und denken Sie, ist dieses Wissen angekommen?
Die zentralen Rahmenbedingungen für das Leben auf der Erde wurden immer von der Biosphäre bestimmt - und das wird auch weiter so sein, auch wenn wir glauben, uns davon loslösen zu können. Die Gesetzmäßigkeiten des Lebens kann man nicht ändern.
Was können wir selbst im Angesicht der Entwicklungen für unsere Gesundheit und die unserer Kinder tun?
Kinder sind die nächsten Generationen und da muss man auch ansetzen. Denn wenn ich als Kind gar kein Naturempfinden erlebt habe, dann fehlt mir der Bezug dazu und ich weiß gar nicht mehr, was ich verpasse. Ich kann nur gernhaben und versuchen zu erhalten, was ich kenne und mag. Besonders in der zunehmenden Urbanisierung, in der man vieles nur mehr aus Büchern oder aus dem Internet kennt. In der Schule lernt man Wissen, und das ist wichtig, aber man muss es auch erleben. Was das menschliche Dasein ausmacht, ist das Erlebniswissen - ein Spüren und Erfahren und nicht nur ein abstraktes Sammeln von Informationen. Phänomene wie Liebe, Trauer, Hoffnung, Verzweiflung oder Ekel lassen sich nicht mit Wissen vermitteln, sie sind auch wissenschaftlich schwer nachvollziehbar, schwer messbar. Es gibt einen großen Teil unseres Daseins, der sich der Wissenschaft entzieht. Das ist keine Wissenschaftskritik - die wissenschaftliche Methode ist wunderbar, aber sie hat Grenzen was unsere Weltwahrnehmung betrifft. Alles in Zahlen fassen zu wollen führt automatisch zu einem unheimlich reduktionistischen Weltbild. Wenn wir den Klimawandel hernehmen, dann ist es legitim von einem CO2 Reduktionismus zu sprechen. Sicher sind die menschengemachten Emissionen ein großes Thema, aber dahinter liegen tieferliegende Ursachen, zum Beispiel der Glaube und Zwang weiter wachsen und alles dominieren zu müssen. Natürliche Systeme dominieren zu wollen, ist der größte Fehler. Technische Lösungen, erneuerbare Energien, sind großartig, aber wir dürfen das Heil nicht in ihnen suchen. Wächst der menschliche Superorganismus auf dieser Welt weiter, wird er einen Primärenergiebedarf haben, den wir niemals decken können. Es gibt ja auch noch ein paar Kontinente mehr als Europa. Das ist diese Nachricht, die niemand hören will.
Wenn man sich biologische Systeme anschaut, egal ob es eine Zelle, ein Organismus, ein Ökosystem ist, dann zeigt sich, dass ein ewiges Wachstum ohne jegliche Rückwärtsschleifen eine biologische Unmöglichkeit ist - auch für unsere globale Zivilisation, die ebenso ein lebendes System ist. Das ist eine nüchterne Erkenntnis, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, wenn wir eine noch längere Zukunft vor uns haben wollen. Das tieferliegende Problem ist der energiehungrige Superorganismus, der dauernd Energie verschlingt. Untersuchungen zeigen, dass die Ressourcen, die seltenen Erden und Metalle, vielleicht gar nicht vorhanden sind, um den gegenwärtigen Hunger zu stillen.
Sie sagen, dass ein fundamentaler Wandel menschliche Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft regenerieren kann, damit diese langfristig gedeihen können. Was steht für Sie dabei im Zentrum?
„Das Anspruchsdenken, sich das – diesen Urlaub, das Auto, diese Unterhaltungselektronik – erarbeitet und erwirtschaftet zu haben, hilft uns nicht.“
Dazu muss man tief eintauchen: Was sind komplexe Systeme, wie funktionieren sie, wie sind sie organisiert, was ist Emergenz und emergentes Verhalten? Wie funktionieren Ökosysteme in diesen adaptiven Zyklen? Und wenn man das mal verstanden hat, dann erkennt man plötzlich viele Parallelen in unserem Leben, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, dann kann man ziemlich nüchtern zur Kenntnis nehmen, was notwendig ist.
Regeneratives Denken und Handeln ist ja nicht nur eine neue Methode, mit der wir glauben, unsere Probleme zu beseitigen. Wir denken ja viel zu viel in Problemen. Es ist eine völlig kommen neue Sicht auf das Leben - sich als Teil der Natur und als Partner in der Natur zu sehen. Zu erkennen, was wir Positives bewirken können, wie wir in Renaturierungen sehen. Auch Renaturierung heißt noch nicht, dass sich der Mensch als Teil der Natur sieht, sondern nur dass er Maßnahmen setzt, weil er erkannt hat, dass er den Schaden beheben muss, damit es weitergehen kann. Aber die Denkweise ist immer noch die alte - nur im regenerativen Denken, sehen wir uns selbst als Teil dieses Systems. Das ist eine ganz andere Perspektive und ein wirklicher Paradigmenwechsel, wie es die Erkenntnis des heliozentrischen Weltbildes war.
Wie kann man sich dieser neuen Denkweise nähern?
Deswegen habe ich versucht, mit dem neuen Buch regeneratives Denken und Handeln anzustoßen. Derzeit versuchen wir, mit alten, ineffizient gewordenen Methoden, komplexen, ineinander verschachtelten Problemen Herr zu werden. Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind, sagte Albert Einstein. Es ist ja praktisch ein kindlicher Irrglaube, zu sagen: "Die Technik und die Wirtschaft werden uns jetzt da rausholen." Das sind ja genau die Zweige des Fortschrittes, die uns zu einem beträchtlichen Teil in dieses moderne Dilemma hineingebracht haben. Die Medizin begeht den größten Fehler, in dem sie versucht, einem komplexen System, nämlich dem menschlichen Körper, ihren Willen aufzuzwingen.
Die Probleme werden meistens größer, wenn man versucht, komplexe Systeme zu dominieren. Manche in der Landwirtschaft haben das als erste erkannt, dass lebende Systeme Regenerationsphasen brauchen, und dass dies eine dringende Voraussetzung für langfristiges Bestehen von lebendigen Systemen ist. An der regenerativen Landwirtschaft können sich fast alle anderen Lebensbereiche orientieren. Wenn ein Bauer oder eine Landwirtin von ihrem Boden-Konto ständig mehr abbucht, als er/sie darauf einzahlt, dann wird das System früher oder später kollabieren - die Erträge werden einbrechen, unkontrollierbare Pflanzen- und Tierkrankheiten einziehen und verwüstete unfruchtbare Böden zurückbleiben. Das Konto muss aufgeladen werden und das hat man in der Landwirtschaft erkannt. Dass nicht das alte Narrativ der Effizienzsteigerung durch synthetischen und mechanischen Fortschritt zum Ziel führt, sondern jenes System, das auf der Erde schon viel länger funktioniert: Die Symbiose zwischen Boden und Pflanzen, die residierenden Mikroorganismen. Und dass man mit diesem System tanzen kann.
Was mich an komplexen Systemen so fasziniert, ist, dass alles von selber funktioniert. Zum Beispiel machen meine Leberzellen ihren Job, ohne dass ich es ihnen anschaffe, mein Herz schlägt, ohne dass ich es beeinflusse, meine Haut erneuert sich, ohne dass ich weiß, wie das geht und meine Haare wachsen, ohne dass ich irgendwas dazu tue. Warum? Weil diese Systeme aus sich selbst Leben schaffen, ohne dass es einen Dirigenten, ein Mastermind gibt. Wenn ein System in einem idealen Zustand ist, weiß jede Leberzelle, wo ihre Grenzen sind, was ihre Aufgaben sind, wie sich die Moleküle darin formieren müssen, damit sie ihre komplexen Aufgaben erledigen können. Ich muss dem System nur die Rahmenbedingungen schaffen, dass es seine Funktionen erfüllt. Unser Wirtschaftssystem ist zwar eine künstliche kulturelle Erfindung, aber wie unser Körper ein komplexes adaptives System. Die Einsicht, dass all das, unser ganzes Dasein, den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, wie das gesamte Leben auf der Erde ist eine neue, befreiende Erkenntnis. Man kann die Zügel lockerer lassen, weil das Leben lebt.
Diese Systeme sind alle nicht perfekt, aber sie funktionieren für die meisten Menschen die meiste Zeit gut. Nehmen wir einmal die Blutgerinnung: es ist von großem Vorteil, wenn sie bei einer Verletzung ziemlich schnell reagiert, aber nicht zu schnell und bei jeder Gelegenheit, weil sie sonst eine Thrombose erzeugt. Jedes Merkmal, jedes System ist ein Balanceakt, ein evolutionärer Kompromiss.
Was braucht es, um diese Gedanken in der Gesundheit, der Gesellschaft und der Wirtschaft zu etablieren?
In komplexen Systemen, die aus vielen Elementen bestehen, sind die Prozesse und Beziehungen auch wichtiger als die Objekte selbst. In der Musik ist es ähnlich: Was ist eine Note, was sind fünf Noten? Eine abstrakte Frequenz, einige Zeichen auf einem Notenpapier. Aber viele Noten zusammen, miteinander in Beziehung gesetzt, führt zu den schönsten Musikstücken, die wir kennen. Lösen Gefühle und Erinnerungen aus, können lebensverändernd sein. Die Beziehung zueinander macht die Bedeutung der Noten aus. Das ist in Gesellschaften auch so.
Die Natur ist stabil und resilient. Sie gibt es länger als den Menschen. Warum? Einerseits durch das Prinzip der Redundanz. Alles kommt vielfältig vor, alles stützt sich, es gibt nicht nur Wettbewerb, sondern auch Symbiose. Stehen in Mischwälder verschiedene Bäume in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, dann schützt dies vor Waldbränden und Schädlingen, weil unterschiedliche Pflanzen unterschiedlich anfällig sind.
Das Problem unseres Fortschritts und der modernen liberalen Wirtschaftsweise ist, dass alle Redundanzen aus dem System durch unsere Besessenheit der Effizienzsteigerung und Profitmaximierung, beseitigt worden sind. Das macht unsere gegenwärtigen Systeme ziemlich anfällig für unerwartete Schockereignisse - von Lieferkettenunterbrechung über Energieknappheit, Pandemie, Wirtschaftskrise bis dahin, dass in irgendeinem Kanal ein Schiff quer steht.
Wir brauchen eine generelle Resilienz, weil wir nicht wissen, was das nächste große Problem ist. Ein redundantes, resilientes System kann Schockereignisse besser abfedern. Wir dürfen den Istzustand nicht um jeden Preis beibehalten - wir müssten Veränderungen fördern und mutig neue Wege einschlagen. Experimentell an Dinge herangehen und uns auch mal Rückwärtsschleifen zutrauen. Anfang des letzten Jahrhunderts hat der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter den Begriff der kreativen Zerstörung geprägt: Veränderung setzt im System gespeicherte Ressourcen frei und stellt Energie für Neues zur Verfügung. In der Natur lassen die Bäume auch die Blätter fallen. Die freigesetzten Nährstoffe und die freigesetzte Energie dient einem aufstrebenden Schenkel, einem neuen Wachstum. Diese Prinzipien kann man eben auch in der Wirtschaft einsetzen, indem man nicht immer auf der Vorwärtsschleife beharrt, sondern hin und wieder ein System bewusst aufbricht, um wieder Innovationsmöglichkeiten zu schaffen. Um Redundanz zu schaffen, muss man aber den Gedanken loslassen, jede minimale Rendite noch zu steigern. Redundanz kostet Geld, aber wenn unser Wirtschaftssystem langfristig funktionieren soll, muss es sich an die regenerativen Prinzipien lebender Systeme anpassen.
Wenn Sie sagen, dass viele unserer unlösbar scheinenden Probleme mit unserer Entfremdung von der Natur zusammenhängen, wie denken Sie, können wir als einzelne und als Gesellschaft wieder in ein positives Kennenlernen mit der Natur kommen?
Wir müssen das Staunen über all diese Prozesse bewusst fördern, und das geht nur, indem wir auch ein bisschen unseren Lebensrhythmus verlangsamen.
Weltweit besuchen mehr Menschen zoologische Gärten, machen Urlaub irgendwo im Grünen, an Gewässern oder am Meer, als sie Konzerte oder Fußballmatches besuchen. Menschen fahren bewusst aus der Stadt raus und sagen, sie gehen ins Grüne. Es ist ein tiefliegendes Bedürfnis, dass sich Menschen Zimmerpflanzen reinstellen, um sich ein bisschen Natur reinzuholen. Innerhalb des regenerativen Designs werden zum Beispiel auch Häuser nach den ursprünglichen Bedürfnissen des Menschen nach einer gewissen strukturierten Landschaft gebaut. Von pflanzlichen Mustern an Vorhängen bis hin zu den Baumaterialien und -formen, die nicht rechtwinkelig sondern organisch sind. Viele spüren, dass ihnen das gut tut, aber können nicht sagen, warum. Das muss man akzeptieren, dass es so was wie die Qualität ohne Namen gibt. Warum ein Haus heimelig wirkt, das muss man erfahren und empfinden, nicht messen und in Zahlen fassen.
Wo stehen wir auf dem Weg zum Regenerativ – weltweit bzw. in Österreich?
In vielen Kulturen, zum Beispiel in vielen indigenen Mythen, in der Maori-Kultur und vielen afrikanischen Kulturen, hat es einen sehr hohen Stellenwert ein guter Vorfahre zu sein. Dort sieht man sich oft als Teil eines langen, endlosen Bandes. Wenn man sich in diesen großen Zyklus hineindenkt, in Richtung Generationendenken, dann kann das hilfreich sein, eine andere Perspektive zu bekommen. Das kann am Anfang schwierig sein, weil dabei viele psychologische Momente zu tragen kommen. Wir leben in einer westlichen Kultur, in der wir den Tod verleugnen, in der der Tod nicht vorkommen darf. Alt zu werden nicht vorkommen darf. Ewiges Leben ist für viele Menschen die neue transhumanistische Fantasie. Dabei brauchen fast alle Veränderungen den Schmerz, die schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem, was ich bisher geglaubt habe, was ich bin, was ich tue und wie ich lebe. Wenn ich eine schwere Krankheit diagnostiziert bekomme, steht am Anfang ja auch das aggressive Ableugnen, aber wenn man es verarbeitet folgt die Akzeptanz.
Deshalb braucht es auch auf dem Weg zu einer regenerativen Denkweise einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess. Und der geht darüber hinaus, nur Energie zu sparen, nur ein E-auto zu fahren, nur dieses und jenes zu tun, damit es so weitergehen kann wie bisher. Wir wollen in das alte Leben zurück, wir wollen in die alte Normalität, wir sind es gewohnt, weil seit den 50er Jahren ja auch alles bergauf gegangen ist. Wir sind Kinder des Fortschrittes, Ich glaube, sich einzugestehen, dass diese Party des endlosen Wachstums vorüber ist, das zu akzeptieren, ist für die gesamte Gesellschaft ein schmerzhafter Transformationsprozess. Aber am Ende steht die befreiende Erkenntnis, dass es auch anders ziemlich gut gehen kann.
Das sage ich nicht aus einer politischen Ansicht heraus, sondern das ist einfach abgeleitet aus der Beobachtung von gegenwärtigen Ökosystemen. Auch aus einer reduktionistischen, wissenschaftlichen Perspektive sind wir ein Teil des Systems. Zum Beispiel sind mehr als ein Drittel unserer Gene Milliarden Jahre alt - nur etwa 6 Prozent unserer Gene sind im Rahmen unserer Primatenentwicklung hinzugetreten. Alle zentralen biochemischen Kreisläufe in Zellen sind schon vor Milliarden von Jahren erfunden und beibehalten worden, weil sie sich als sinnvoll erwiesen haben. Alle Lebensformen haben denselben genetischen Code, nutzen dieselben Aminosäuren und denselben Energiespeicher. Im Grunde funktionieren wir alle gleich.
Und ich finde das auch unheimlich angenehm. Wir blicken manchmal auf indigene Kulturen herab, die diese animistische Weltsicht haben, in der Tiere und die ganze lebende Welt wie Brüder und Schwestern gesehen werden. Man bezeichnet das als primitiv und rückständig, aber eigentlich zeigt die Genetik genau das. Wir sind 60 Prozent genetisch ident mit einer Banane.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten, aber so richtig in letzter Zeit, sind schon sehr viele Menschen draufgekommen, dass es eine andere Denkweise braucht. Mit diesen Ausführungen hätte ich vor 20 oder 30 Jahren, wo das Gefühl der Linearität und der ewigen Verbesserung und Sicherheit weit verbreitet war, wahrscheinlich niemanden ansprechen können.
Und jetzt, wo man sagt, das hätte ich mir nie gedacht, dass dieser und jener Krieg und diese Knappheit und jene Veränderung passiert. Da wacht man schon auf. Es gibt so viele Systeme - medizinische Systeme, der Zugverkehr zum Beispiel - die haben früher schon einmal besser funktioniert.
Welche Rolle spielen dafür einzelne Menschen?
Und Unternehmen?
Wenn man erkennt, dass man am Ende eines adaptiven Zyklus angekommen ist, in dem durch Effizienzsteigerungsmaßnahmen nur mehr geringfügige Zuwächse erreicht oder überhaupt nur mehr der Ist-Zustand beibehalten werden kann, dann weiß man, dass man wieder Freisetzungsphasen braucht. Rückwärtsschleifen. Und das scheint bei vielen im Management anzukommen zu sein - dass man das Leben und die Psyche des Menschen, nicht von dem Output der Firma trennen kann und als Unternehmen lebendige Kulturen erschaffen muss. Arbeitet man mit Bestrafungen, ohne Mitspracherecht, und hat nur die Effizienz im Blick, geht das auf Kosten der Natur und auf Kosten der Individuen. Die massive Effizienzsteigerung beutet auch Degeneration des menschlichen Potenzials.
Es wird dann natürlich sehr schnell gesagt, dass es anders nicht funktioniert. Wo käme denn zum Beispiel ein großer Online-Händler hin, wenn jetzt jeder Mitarbeiter nach Gutdünken alles selber machen könnte? Deshalb suchen wir nach Fehlern, Lösen ein Problem nach dem anderen, lassen uns von Betriebsberatern unterstützen und kommen doch nicht vorwärts.
Beim regenerativen Entwickeln geht es eher um das Erkennen und Fördern von Potenzial. Nach Potential, nach Möglichkeiten zu suchen kann effektiver sein als nach Fehlern und Problemen zu suchen.
„Nach Potenzial, nach Möglichkeiten zu suchen, kann effektiver sein, als nach Fehlern und Problemen zu suchen.“
Potentiale zu erkennen, klingt abstrakt. Was bedeutet das für das tägliche Leben?
Edward O. Wilson hat einmal gesagt "Wir haben das Potenzial, diesen Planeten in kürzester Zeit zu einem Paradies zu machen." Mit demselben Erfindungsgeist, mit derselben Akribie, mit demselben menschlichen Hintergrund. Ich kann mich entscheiden, ob ich extraktiv oder regenerativ wirtschaften will - so oder so bin ich nach ungefähr 4.000 Wochen tot. Nur war ich Teil des endlosen Bandes und habe es für die Nachkommenschaft weiter gewebt. Wenn man Kinder hat, sieht man das vielleicht noch erheblich anders als wenn man keine hat.
Nachhaltigkeit heißt im Englischen ja Sustainability, von sustain, zu erhalten. Aber erhalten ist zu wenig, weil schon so viel kaputt gegangen ist. Ich muss wieder aufbauen, regenerieren. Das Regenerieren ist die Grundvoraussetzung, dass ich irgendwann einmal wieder nachhaltig wirtschaften kann. Ein System, das sich nicht regenerieren kann stirbt früher oder später.
Was verstehen Sie unter Nachhaltigkeit?
Ich bin kein Öko-Fundamentalist und Radikalität liegt mir nur im Sinne von "Radix", die Wurzel. An die Wurzel des Problems zu gehen. Ein Umweltanwalt in den USA hat am Ende seiner Karriere gesagt, er dachte, dass 30 Jahre gute Wissenschaft unsere ökologischen Probleme lösen könnten. Er hat 30 Jahre lang versucht, den Leuten das Wissen zu vermitteln und es ist nichts passiert - weil die wahren Probleme Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit sind. Dinge, mit denen die Naturwissenschaft nichts am Hut hat und mit denen sie nicht umgehen kann. Er war überzeugt, dass wir einen kulturellen und spirituellen Wandel brauchen. Sie haben gefragt, was jede*r Einzelne beitragen kann. Ich sage, jede*r Einzelne ist Teil dieses kulturellen und spirituellen Wandels. Das hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern damit, sich mit den Fragen des Lebens auseinanderzusetzen und sein Glück nicht vom nächsten Einkaufsrausch abhängig zu machen.
Unser ganzer Fortschritt, unser ganzes Dasein, unsere globalisierte Gesellschaft basiert derzeit auf den Grundannahmen und auf dem Funktionieren von einem neoliberalen System. Aus dem schnell, einfach so auszusteigen, wird schwierig. Weil ja alles nach diesem System gemacht worden ist. Deshalb brauchen wir jetzt einen Transformationsprozess, in dem nicht das Wirtschaftssystem tonangebend ist, sondern die natürlichen Systeme und die Menschen im Vordergrund stehen. Nicht das Suchen nach neuen Erfindungen, neuer Energie. Das sind schöne und gute Erfindungen, aber sie können die zugrunde liegenden Probleme nicht verändern, nicht lösen.
Das nimmt jede*n Einzelne*n plötzlich in die Verantwortung. Wir wissen, wie Menschen reagieren, wenn sie vor einer Verantwortung stehen, die sie unter Druck setzt oder ihr bisheriges Weltbild infrage stellt. Sie reagieren mit Anspruchsdenken: Ich habe Anspruch auf diesen Urlaub, ich habe Anspruch auf dieses Haus und Auto, ich habe Anspruch auf jene Unterhaltungselektronik. Das Anspruchsdenken, sich das erarbeitet und erwirtschaftet zu haben - das hilft uns nicht. Regeneratives Denken könnte alle Lager vereinen, sowohl jene, die sagen, wir können alle weitermachen wie bisher, als auch die, die sagen, wir müssen alles abschalten und ins Mittelalter zurückkehren. Es wäre die dritte Alternative, der dritte Weg. Und dieser entsteht in vielen Wirtschaftsbereichen auch schon. Das man sich zum Beispiel in der Bauindustrie an der Natur orientiert und beginnt alte Gebäudesubstanzen mit baubiologischen Maßnahmen wieder zu sanieren. Ich denke, dass die Baubiologie mit regionalen Materialien, wie Lehm und Holz eine sehr große Zukunft haben wird. Oder dass man in der Kunststoffindustrie statt den fossilen Kunststoffen natürliche Polymere nutzt. Zwar recyceln wir immer mehr, aber wenn man sich den relativen Anteil anschaut, weniger, weil wir immer mehr Müll produzieren. Deshalb müssen wir wirklich in Richtung Cradle-to-Cradle kommen - dass Substanzen am Ende ihrer Lebenszeit wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden können. Das ist anstrengend, kostet Geld und ist aufwendig, ist aber die einzige Möglichkeit.
Und was auch wichtig ist, ist dass es eigentlich ein endloser Prozess ist. Es gibt endliche und unendliche Spiele. Das Leben ist ein unendliches Spiel. Man kann es nicht gewinnen. Man kann nur teilnehmen und so lange wie möglich im Spiel bleiben. Das finde ich sehr schön.
„Ich bin kein Öko-Fundamentalist und Radikalität liegt mir nur im Sinne von „Radix“, die Wurzel, an die Wurzel des Problems zu gehen.“
Das Interview führte Michaela R. Reisinger - das Gespräch kam im Rahmen der Rohrauer Gespräche in der Haydnregion Niederösterreich zustande. Wir bedanken uns herzlich für die Unterstützung!