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Das Regenerativ

Wie unsere evolutionäre Geschichte zu einer guten Zukunft führen kann.

Eine grüne Raupe krabbelt vom Ballen einer linken menschlichen Hand auf die hingehaltenen Finger der rechten Hand.
Foto: Renatto Mora / unsplash

Nagt der Hamster an den Gitterstäben, ist er gelangweilt oder gestresst. Wie das bei uns Menschen aussieht, was eine lebensfreundliche Umwelt wäre und wie uns unsere evolutionäre Geschichte zu einer guten Zukunft führen kann, erzählt Dr. Martin Grassberger, Humanökologe und evolutionärer Mediziner, Autor von „Das leise Sterben“ (Wissenschaftsbuch des Jahres 2020), „Das unsichtbare Netz des Lebens“ und „Regenerativ“.

LEBENSART: Eine persönliche Frage vorweg: Sie sind Mediziner als auch Biologe – wie sind Sie zu dieser Kombination gekommen?
Prof. Mag. Dr. Dr. med. univ. Martin Grassberger: Ich glaube, dass uns das retrospektive Suchen nach Erklärungen oft verzerrte Antworten liefert. Deshalb kann ich es nicht ganz genau sagen. Aber ich glaube, es war nach dem Medizinstudium einfach eine gewisse Unzufriedenheit, weil viele Fragen bezüglich des Phänomens Leben auf der Erde noch offen waren. Ich habe versucht, diese Lücke mit dem Biologiestudium zu schließen.

In Ihrer Biografie steht als Fachgebiet auch Evolutionäre Medizin. Was bedeutet das?
Vereinfacht gesagt, ist die evolutionäre Medizin die Anwendung von Wissen aus der Evolution auf Fragen der Medizin - die Prinzipien der Evolution angewandt auf das Tier Mensch.

Sie sagten in einem Interview einmal, wir „müssen dem Menschen sein Habitat zurückgeben“ – was ist das menschliche Habitat und was bedeutet eine artgerechte Haltung für Menschen?
Das können wir versuchen aus unserer Vergangenheit zu rekonstruieren. Es ist mit Sicherheit nicht so, wie wir jetzt leben. In der evolutionären Medizin gibt es diesen Begriff "Miss-Match" - Nicht-Zusammenpassen der evolutionären Ausstattung mit dem Lebensumfeld. Und da sind wir mitten drinnen. Alle Aspekte, von der Ernährung bis zum Lebensraum - das ist alles suboptimal. Das ist, was mich in den letzten Büchern sehr stark bewegte. Aber wir wissen auch, dass es diese idealisierte evolutionäre Arena nicht gegeben hat, sondern das alles sehr verschlungen und vielfältig war und ist.Wir haben uns im Zuge des allgemeinen Fortschritts eine zunehmend lebensfeindliche Umwelt geschaffen. Das betrifft den chronischen Stress und Schlafmangel durch unsere vernetzte, permanent hoch getaktete digitale Gesellschaft und die Umweltchemikalien, die zum Beispiel aus der Landwirtschaft über unsere Nahrung zu uns finden, aber auch in zahlreichen anderen Lebensbereichen vorkommen. Und die hoch verarbeiteten Lebensmittel, nicht lebensfreundlichen Wohn- und Arbeitsbereiche, den Mangel an körperlicher Aktivität, die Übermedikalisierung sowie zahlreiche soziale Faktoren. Medizin und Digitalisierung haben ihre Berechtigung, aber wir nutzen sie im Übermaß. Permanente schlechte Nachrichten, die einen bis in die Hosentasche verfolgen, ständiges blaues Licht - das ist eine lebensfeindliche Umwelt. Natürlich sind viele Medikamente großartig und retten Leben, aber weil sie verfügbar sind nehmen manche Menschen täglich fünf bis zehn Medikamente.

In Ihrem Buch „Das leise Sterben“ schlagen Sie eine Brücke von der Zerstörung der Natur und der Zunahme von chronischen Krankheiten. Welche chronischen Krankheiten sind am klarsten mit der Umweltkrise verknüpft?
Ein Mann mit hoher Stirne und graumeliertem Dreitagesbart sitzt in Bluejeans, geschnürten Lederstiefeln und weißem Hemd mit offenem Kragen und aufgekrempelten Ärmeln auf einer alten Holzbank im bäuerlichen Landhausstil vor dem Haus. Die Fassade ist klassi
Foto: Grassberger
Die derzeit am Raschesten zunehmenden Krankheiten sind die sogenannten Zivilisationskrankheiten - jene Krankheiten, die mit dem Voranschreiten unserer Zivilisation und den sogenannten Fortschritt einhergehen - die Krankheiten des Herz-Kreislauf-System, des zentralen Nervensystems, des Stoffwechsels und des Verdauungstraktes aber auch psychische Erkrankungen. Das haben die letzten 10 bis 20 Jahre gezeigt - und auch, dass alle diese Erkrankungen eine chronische niederschwellige Entzündung gemeinsam haben. Sie, die man ja nicht merkt, ist im Wesentlichen die Folge einer falschen Ernährung, unzähliger Umweltchemikalien und gestörter Schlafmuster - die Beschleunigung der Gesellschaft, die in gestörten Schlaf oder in mangelnden Schlaf mündet. Die Umwelt ist ja nicht nur die grüne Umwelt, sondern das ganze Lebensumfeld. Diese Krankheiten sind die Folge der massiv geänderten menschlichen Umwelt, seit dem Beginn der Landwirtschaft vor 7 bis 10 000 Jahren aber besonders seit der Industrialisierung der letzten 200 Jahre. Die uns ja auch viele Vorteile gebracht hat. Der Fortschritt bedeutet weniger Infektionskrankheiten, aber dafür mehr chronische, degenerative Erkrankungen.
Heißt das, wir müssen zurück in die Steinzeit?
Kritiker legen das gerne so aus, aber es geht eher um eine kleine Rückwärtsschleife. Jetzt haben wir uns stark von der Natur entfernt, im Rahmen unseres Fortschrittes, und es war natürlich auch eine gewisse Fortschrittseuphorie da. Gute Wissenschaft hat uns gezeigt, dass die Dysfunktionen unserer Systeme auf diesen Mangel an Natur zurückzuführen sind - dass der Mensch die Natur braucht. Die Kunst ist jetzt wahrscheinlich beides mit Bedacht zu finden: Den Fortschritt wollen wir nicht aufgeben, aber es geht schon darum vorsichtig in eine andere Richtung zu fahren. Jeden Tag Natur wieder miteinfließen zu lassen. Und das ist sicher möglich - das einzige woran es sich spießt, ist ein Effizienz- und Profitgedanke, der ewiges Wachstum sucht. Das ist ein Zielkonflikt: Zurück zur Natur zu finden und sie weiterhin ausbeuten, wird ein schwieriges Unterfangen.

Den Naturbegriff könnten wir eine ganze Stunde philosophisch erörtern - ich betrachte alle lebendigen Systeme, inklusive des Menschen und seiner selbstgeschaffenen Systeme, als die Natur. Auch unsere Kulturleistungen sind Teil der Natur, weil sie von einem Tier erschaffen worden sind.

„Es geht darum vorsichtig in eine andere Richtung zu fahren. Jeden Tag Natur wieder miteinfließen zu lassen.“

Was ist dann eigentlich nicht mehr Teil der Natur?
Alles was mit der Funktionsweise biologischer Systeme unvereinbar ist, ist gegen die Natur. Wenn man sich lange genug damit beschäftigt, wirkt es so, als wäre das ziemlich einfach, wenn man sich globale Entwicklungen anschaut, dann scheint es dann doch wieder nicht so einfach zu sein.

Was macht es schwierig?
Das allgegenwärtige Narrativ des Fortschrittes, das Konsum und das Bruttoinlandsprodukt die einzigen Kerngrößen wären, die uns glücklich machen. Aber genau betrachtet weiß eigentlich jede*r, dass was das menschliche Leben wirklich lebenswert macht, von diesen Größenordnungen (abgesehen von wirklicher Armut) ziemlich unabhängig ist. Der Glücksindex steigt ab einem gewissen Einkommen nicht mehr wirklich an.

Wer bin ich, wo komme ich her und wo werde ich hingehen? Das sind die zentralen Fragen der Menschheit. Der Mensch ist vermutlich das einzige Lebewesen, das weiß, dass es einmal sterben wird. Wir haben insgesamt ungefähr 4.000 Lebenswochen zur Verfügung und wir entscheiden: Was will ich tun mit dieser verfügbaren Zeit, was macht mich im Kern tatsächlich glücklich? Da kommt man relativ schnell darauf, dass das mit ausreichender Ernährung, mit einem Dach über dem Kopf und mit sozialen Beziehungen zusammenhängt - und nicht mit dem Auto oder mit "schneller, größer, mehr, höher".
Das hat sich sogar in den letzten Jahren verschlechtert - weil sich diese globale Megamaschine noch schneller weiterentwickelt hat - exponentiell und in immer kürzeren Intervallen. Vor einem Jahr haben wir über künstliche Intelligenz noch nicht wirklich viel geredet und jetzt wird sie von vielen Menschen benutzt. Alles innerhalb von einem Jahr.

Die Frage ist, wie schnell wir uns an so etwas überhaupt anpassen können. Ich bin ein großer Freund der sogenannten Technikfolgenabschätzung, dass man sich retrospektiv ansieht, wie oft wir zu schnell Wege eingeschlagen haben, die sich im Nachhinein als ungünstig herausgestellt haben.

Hat sich seit Erscheinen des ersten Buches – in den letzten fünf Jahren – etwas an dieser Situation verändert?
Im Zuge des Pandemiegeschehens und den damit einhergehenden globalen Verwerfungen haben in den letzten Jahren vor allem auch die psychischen Erkrankungen zugenommen. Vielleicht sollten wir manchmal ein bisschen langsamer voranschreiten, ein bisschen nachdenken und auch zurückblicken.

Und denken Sie, ist dieses Wissen angekommen?
Das Buch mit dem Titel
Zurückzublicken und langsamer zu treten wird oft als rückschrittlich und fortschrittsfeindlich empfunden. Es geht aber darum anzuerkennen, welchen Blickwinkel man hat. Zum Beispiel gibt es einen kleinen Lichtkegel, innerhalb dessen man sagt, dass Gentechnik super sei. Es ist spannend, was man alles machen kann, aber es wird dabei vieles in einem sehr komplexen System ausgeklammert. Wenn man hofft, dass die Gentechnik die Landwirtschaft retten könnte, dann ist das ein Riesenirrtum. Wenn man sich als Biologe mit der Evolution und dem Leben auf der Erde, mit den 3,5 Milliarden Jahren Vergangenheit, beschäftigt, dann sieht man, dass es sehr komplexe Zusammenhänge sind, die das Leben ermöglichen. Im Falle der Landwirtschaft ist es das Ökosystem Boden - ein lebendiger Boden - das Zentrale für Erosionsschutz, Wasserspeicherung, aber auch gesunde, schädlingsresistente Pflanzen. Wenn ich nur die Pflanze genetisch manipuliere, habe ich das größere System überhaupt nicht verändert. Es wird weiter den Bach runtergehen, wenn man sich nicht dem Boden widmet. Es ist nur eine Ablenkung zu sagen "das ist jetzt die Lösung". Und das betrifft fast alle unsere Probleme. Auch für den Klimawandel, haben manche sehr schnell simple Lösungen, die aber zumeist nur die Symptome behandeln - und das größere Problem dahinter wird nicht gelöst.

Die zentralen Rahmenbedingungen für das Leben auf der Erde wurden immer von der Biosphäre bestimmt - und das wird auch weiter so sein, auch wenn wir glauben, uns davon loslösen zu können. Die Gesetzmäßigkeiten des Lebens kann man nicht ändern.

Was können wir selbst im Angesicht der Entwicklungen für unsere Gesundheit und die unserer Kinder tun?
Wenn wir erkennen, dass wir vom größeren System abhängig sind, können wir gleich reagieren. „Nature Defizit Syndrom“ ist zwar kein medizinischer Begriff, aber es stimmt, dass uns die Natur in vielen Belangen, ernährungsmässig genauso wie psychisch, fehlt. Erkennt man das, kann man selbst versuchen, dem entgegenzuwirken. Das kann man nicht verordnen - ich bin gegen Gesetze und Verordnungen von oben, weil diese nicht zu den gewünschten Veränderungen, sondern zu Widerstand führen. So wie in der Natur alles vom Kleinen ins Große geht, Bottom-up, muss das jede*r für sich entscheiden. Will man mit diesem Hochgeschwindigkeitszug mitfahren oder kann man vielleicht auch ein bisschen langsamer leben? Und sich überlegen, was man wirklich braucht?

Kinder sind die nächsten Generationen und da muss man auch ansetzen. Denn wenn ich als Kind gar kein Naturempfinden erlebt habe, dann fehlt mir der Bezug dazu und ich weiß gar nicht mehr, was ich verpasse. Ich kann nur gernhaben und versuchen zu erhalten, was ich kenne und mag. Besonders in der zunehmenden Urbanisierung, in der man vieles nur mehr aus Büchern oder aus dem Internet kennt. In der Schule lernt man Wissen, und das ist wichtig, aber man muss es auch erleben. Was das menschliche Dasein ausmacht, ist das Erlebniswissen - ein Spüren und Erfahren und nicht nur ein abstraktes Sammeln von Informationen. Phänomene wie Liebe, Trauer, Hoffnung, Verzweiflung oder Ekel lassen sich nicht mit Wissen vermitteln, sie sind auch wissenschaftlich schwer nachvollziehbar, schwer messbar. Es gibt einen großen Teil unseres Daseins, der sich der Wissenschaft entzieht. Das ist keine Wissenschaftskritik - die wissenschaftliche Methode ist wunderbar, aber sie hat Grenzen was unsere Weltwahrnehmung betrifft. Alles in Zahlen fassen zu wollen führt automatisch zu einem unheimlich reduktionistischen Weltbild. Wenn wir den Klimawandel hernehmen, dann ist es legitim von einem CO2 Reduktionismus zu sprechen. Sicher sind die menschengemachten Emissionen ein großes Thema, aber dahinter liegen tieferliegende Ursachen, zum Beispiel der Glaube und Zwang weiter wachsen und alles dominieren zu müssen. Natürliche Systeme dominieren zu wollen, ist der größte Fehler. Technische Lösungen, erneuerbare Energien, sind großartig, aber wir dürfen das Heil nicht in ihnen suchen. Wächst der menschliche Superorganismus auf dieser Welt weiter, wird er einen Primärenergiebedarf haben, den wir niemals decken können. Es gibt ja auch noch ein paar Kontinente mehr als Europa. Das ist diese Nachricht, die niemand hören will.

Wenn man sich biologische Systeme anschaut, egal ob es eine Zelle, ein Organismus, ein Ökosystem ist, dann zeigt sich, dass ein ewiges Wachstum ohne jegliche Rückwärtsschleifen eine biologische Unmöglichkeit ist - auch für unsere globale Zivilisation, die ebenso ein lebendes System ist. Das ist eine nüchterne Erkenntnis, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, wenn wir eine noch längere Zukunft vor uns haben wollen. Das tieferliegende Problem ist der energiehungrige Superorganismus, der dauernd Energie verschlingt. Untersuchungen zeigen, dass die Ressourcen, die seltenen Erden und Metalle, vielleicht gar nicht vorhanden sind, um den gegenwärtigen Hunger zu stillen.

Sie sagen, dass ein fundamentaler Wandel menschliche Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft regenerieren kann, damit diese langfristig gedeihen können. Was steht für Sie dabei im Zentrum?
Das Zentrale ist ganz tief anzusetzen, sich die wesentlichen Fragen zu stellen - das führt zu einem Paradigmenwechsel. Der Mensch des 21. Jahrhunderts sieht sich selbst getrennt von der Natur, als Beherrscher von natürlichen komplexen Systemen, hat Allmachtsphantasien. Die Natur wird von manchen ja sogar als feindlich wahrgenommen. Wir müssen erkennen, dass der Mensch Teil der Natur ist, dass wir selbst diese "Natur" und "Umwelt" sind. Die Erkenntnis, dass man Systeme nicht dominieren kann, dass man nur mit den natürlichen Systemen der Erde und nicht gegen sie arbeiten kann, mag anfangs schmerzlich sein - aber wir können sie nur betrachten und verstehen, wie sie funktionieren, um danach zu suchen, wo es Parallelen gibt, in dem was wir wollen. Ob wir „mit ihnen tanzen“ können, wie Donella Meadows gesagt hat.

„Das Anspruchsdenken, sich das – diesen Urlaub, das Auto, diese Unterhaltungselektronik – erarbeitet und erwirtschaftet zu haben, hilft uns nicht.“

Dazu muss man tief eintauchen: Was sind komplexe Systeme, wie funktionieren sie, wie sind sie organisiert, was ist Emergenz und emergentes Verhalten? Wie funktionieren Ökosysteme in diesen adaptiven Zyklen? Und wenn man das mal verstanden hat, dann erkennt man plötzlich viele Parallelen in unserem Leben, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, dann kann man ziemlich nüchtern zur Kenntnis nehmen, was notwendig ist.

Regeneratives Denken und Handeln ist ja nicht nur eine neue Methode, mit der wir glauben, unsere Probleme zu beseitigen. Wir denken ja viel zu viel in Problemen. Es ist eine völlig kommen neue Sicht auf das Leben - sich als Teil der Natur und als Partner in der Natur zu sehen. Zu erkennen, was wir Positives bewirken können, wie wir in Renaturierungen sehen. Auch Renaturierung heißt noch nicht, dass sich der Mensch als Teil der Natur sieht, sondern nur dass er  Maßnahmen setzt, weil er erkannt hat, dass er den Schaden beheben muss, damit es weitergehen kann. Aber die Denkweise ist immer noch die alte - nur im regenerativen Denken, sehen wir uns selbst als Teil dieses Systems. Das ist eine ganz andere Perspektive und ein wirklicher Paradigmenwechsel, wie es die Erkenntnis des heliozentrischen Weltbildes war.

Wie kann man sich dieser neuen Denkweise nähern?
Einerseits sicher durch Wissen, aber genauso durch die Naturerfahrung selbst. Es gibt wunderschöne Untersuchungen, wie effizient eigentlich und wie effektiv die Exposition gegenüber der Natur Krankheiten verhindern oder sogar beseitigen kann. „Nature Based Therapies“ sind vollkommen kostenlos - die Natur wirkt blutdrucksenkend, blutzuckerkontrollierend und der psychische Zustand verbessert sich relativ schnell, wenn man nur in der Natur, in vielfältigen, intakten Ökosystemen ist. Das hat auch etwas mit dem Empfinden von Schönheit zu tun. Das läuft natürlich manchen wirtschaftlichen Interessen entgegen. Mit weniger Medikamenten auskommen, Landwirtschaft mit weniger synthetischem Input betreiben zu können, mehr unverarbeitete, regionale, saisonale Lebensmittel konsumieren und nur noch nach ökologischen Gesichtspunkten bauen - das, was richtig wäre, würde für beträchtliche Industriezweige einen Nachteil bedeuten. Diese Zielkonflikte zu lösen wird nicht einfach sein, aber sich langfristig bezahlt machen: Schlechte Ernährung ist zum Beispiel der größte Risikofaktor für frühe Krankheitsentstehung und verringerte Lebensdauer. Aus der Tierhaltung wissen wir, dass wir Tiere artgerecht ernähren müssen, damit sie gesund und lange leben - beim Mensch haben wir diese Frage nie gestellt. Ernährung, Evolution, Ökologie spielen in der Medizin eine zu geringe Rolle. Die moderne Medizin hat großartige Errungenschaften, ist aber auch ein klassisches Beispiel für reduktionistisches Denken.

Vor dem Hintergrund eines Sonnenblumenfeldes bei Sonnenuntergang steht ein Mann mit Bart, Brille und Baseballkappe. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und hält sich zwischen Zeige- und MIttelfinger der rechten Hand ein paar Blümchen an den Mund, aus der
Foto: Nathan Dumlao / unsplash

Deswegen habe ich versucht, mit dem neuen Buch regeneratives Denken und Handeln anzustoßen. Derzeit versuchen wir, mit alten, ineffizient gewordenen Methoden, komplexen, ineinander verschachtelten Problemen Herr zu werden. Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind, sagte Albert Einstein. Es ist ja praktisch ein kindlicher Irrglaube, zu sagen: "Die Technik und die Wirtschaft werden uns jetzt da rausholen." Das sind ja genau die Zweige des Fortschrittes, die uns zu einem beträchtlichen Teil in dieses moderne Dilemma hineingebracht haben. Die Medizin begeht den größten Fehler, in dem sie versucht, einem komplexen System, nämlich dem menschlichen Körper, ihren Willen aufzuzwingen.
Die Probleme werden meistens größer, wenn man versucht, komplexe Systeme zu dominieren. Manche in der Landwirtschaft haben das als erste erkannt, dass lebende Systeme Regenerationsphasen brauchen, und dass dies eine dringende Voraussetzung für langfristiges Bestehen von lebendigen Systemen ist. An der regenerativen Landwirtschaft können sich fast alle anderen Lebensbereiche orientieren. Wenn ein Bauer oder eine Landwirtin von ihrem Boden-Konto ständig mehr abbucht, als er/sie darauf einzahlt, dann wird das System früher oder später kollabieren - die Erträge werden einbrechen, unkontrollierbare Pflanzen- und Tierkrankheiten einziehen und verwüstete unfruchtbare Böden zurückbleiben. Das Konto muss aufgeladen werden und das hat man in der Landwirtschaft erkannt. Dass nicht das alte Narrativ der Effizienzsteigerung durch synthetischen und mechanischen Fortschritt zum Ziel führt, sondern jenes System, das auf der Erde schon viel länger funktioniert: Die Symbiose zwischen Boden und Pflanzen, die residierenden Mikroorganismen. Und dass man mit diesem System tanzen kann.
Was mich an komplexen Systemen so fasziniert, ist, dass alles von selber funktioniert. Zum Beispiel machen meine Leberzellen ihren Job, ohne dass ich es ihnen anschaffe, mein Herz schlägt, ohne dass ich es beeinflusse, meine Haut erneuert sich, ohne dass ich weiß, wie das geht und meine Haare wachsen, ohne dass ich irgendwas dazu tue. Warum? Weil diese Systeme aus sich selbst Leben schaffen, ohne dass es einen Dirigenten, ein Mastermind gibt. Wenn ein System in einem idealen Zustand ist, weiß jede Leberzelle, wo ihre Grenzen sind, was ihre Aufgaben sind, wie sich die Moleküle darin formieren müssen, damit sie ihre komplexen Aufgaben erledigen können. Ich muss dem System nur die Rahmenbedingungen schaffen, dass es seine Funktionen erfüllt. Unser Wirtschaftssystem ist zwar eine künstliche kulturelle Erfindung, aber wie unser Körper ein komplexes adaptives System. Die Einsicht, dass all das, unser ganzes Dasein, den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, wie das gesamte Leben auf der Erde ist eine neue, befreiende Erkenntnis. Man kann die Zügel lockerer lassen, weil das Leben lebt.

Diese Systeme sind alle nicht perfekt, aber sie funktionieren für die meisten Menschen die meiste Zeit gut. Nehmen wir einmal die Blutgerinnung: es ist von großem Vorteil, wenn sie bei einer Verletzung ziemlich schnell reagiert, aber nicht zu schnell und bei jeder Gelegenheit, weil sie sonst eine Thrombose erzeugt. Jedes Merkmal, jedes System ist ein Balanceakt, ein evolutionärer Kompromiss.

Was braucht es, um diese Gedanken in der Gesundheit, der Gesellschaft und der Wirtschaft zu etablieren?
Man muss akzeptieren, dass Veränderungsprozesse in der Natur und den Ökosystemen immer stattfinden, und wahrnehmen, wie sie stattfinden. Unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme sind sehr stark hierarchisch, von oben nach unten orientiert. Veränderungsprozesse beginnen in natürlichen Systemen aber immer bei den kleinsten Organisationseinheiten und pflanzen sich nach oben fort. So geschieht echte Veränderung.

In komplexen Systemen, die aus vielen Elementen bestehen, sind die Prozesse und Beziehungen auch wichtiger als die Objekte selbst. In der Musik ist es ähnlich: Was ist eine Note, was sind fünf Noten? Eine abstrakte Frequenz, einige Zeichen auf einem Notenpapier. Aber viele Noten zusammen, miteinander in Beziehung gesetzt, führt zu den schönsten Musikstücken, die wir kennen. Lösen Gefühle und Erinnerungen aus, können lebensverändernd sein. Die Beziehung zueinander macht die Bedeutung der Noten aus. Das ist in Gesellschaften auch so.

Die Natur ist stabil und resilient. Sie gibt es länger als den Menschen. Warum? Einerseits durch das Prinzip der Redundanz. Alles kommt vielfältig vor, alles stützt sich, es gibt nicht nur Wettbewerb, sondern auch Symbiose. Stehen in Mischwälder verschiedene Bäume in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, dann schützt dies vor Waldbränden und Schädlingen, weil unterschiedliche Pflanzen unterschiedlich anfällig sind.

Das Problem unseres Fortschritts und der modernen liberalen Wirtschaftsweise ist, dass alle Redundanzen aus dem System durch unsere Besessenheit der Effizienzsteigerung und Profitmaximierung, beseitigt worden sind. Das macht unsere gegenwärtigen Systeme ziemlich anfällig für unerwartete Schockereignisse - von Lieferkettenunterbrechung über Energieknappheit, Pandemie, Wirtschaftskrise bis dahin, dass in irgendeinem Kanal ein Schiff quer steht.

Wir brauchen eine generelle Resilienz, weil wir nicht wissen, was das nächste große Problem ist. Ein redundantes, resilientes System kann Schockereignisse besser abfedern. Wir dürfen den Istzustand nicht um jeden Preis beibehalten - wir müssten Veränderungen fördern und mutig neue Wege einschlagen. Experimentell an Dinge herangehen und uns auch mal Rückwärtsschleifen zutrauen. Anfang des letzten Jahrhunderts hat der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter den Begriff der kreativen Zerstörung geprägt: Veränderung setzt im System gespeicherte Ressourcen frei und stellt Energie für Neues zur Verfügung. In der Natur lassen die Bäume auch die Blätter fallen. Die freigesetzten Nährstoffe und die freigesetzte Energie dient einem aufstrebenden Schenkel, einem neuen Wachstum. Diese Prinzipien kann man eben auch in der Wirtschaft einsetzen, indem man nicht immer auf der Vorwärtsschleife beharrt, sondern hin und wieder ein System bewusst aufbricht, um wieder Innovationsmöglichkeiten zu schaffen. Um Redundanz zu schaffen, muss man aber den Gedanken loslassen, jede minimale Rendite noch zu steigern. Redundanz kostet Geld, aber wenn unser Wirtschaftssystem langfristig funktionieren soll, muss es sich an die regenerativen Prinzipien lebender Systeme anpassen.

Wenn Sie sagen, dass viele unserer unlösbar scheinenden Probleme mit unserer Entfremdung von der Natur zusammenhängen, wie denken Sie, können wir als einzelne und als Gesellschaft wieder in ein positives Kennenlernen mit der Natur kommen?
Blick in einen sonnendurchfluteten Nadelwald, der Weg ist mit den viel verzweigten und verschlungenen Wurzeln der hohen Nadelbäume bedeckt.
Foto: Zach Callahan / unsplash
Nehmen wir das Beispiel Ernährung. Viele Menschen sehen die Ernährung ist etwas Abstraktes. Man muss den Körper auftanken, wie ein Auto. Ich muss Kalorien berechnen oder Protein maximieren. Wenn man Jahunderttausende zurückdenkt, ist Ernährung immer auch ein sinnliches Erlebnis gewesen. Nicht nur getrieben von einem Energiemangel. Wenn man sich überlegt, was die Natur alles zustande bringt durch die sekundären Pflanzenstoffe, die sie ja nicht für uns produziert, sondern aus eigenen Gründen einlagert, die aber dazu führen, dass das Gericht so schmeckt - dass Wein Wein ist. Im Wein werden unheimlich viele Aromen freigesetzt, aber die macht nicht der Mensch - die machen die Systeme für uns, wenn wir optimale Rahmenbedingungen schaffen. Wenn man diese sinnliche Wahrnehmung von Essen, die sinnliche Wahrnehmung der Natur, das kann das Wetter, der Himmel oder genauso gut ein Tier sein, genießt und akzeptiert, dass es auch noch was anderes gibt, als Wissen auf faktischer Natur, dann begegnen wir den Dingen wirklich. Wenn wir mit zyklischen Veränderungen wieder ein bisschen mitleben - uns nicht täglich über das Wetter ärgern, sondern einfach akzeptieren, dass es den Regen braucht und das das größere Phänomene sind, die wir nicht beeinflussen können. In der Natur gibt es unheimlich viel Intelligenz, die aber ganz anders funktioniert als unsere Großhirnrinde. Die ist einzigartig, aber trotzdem funktionieren die Systeme ja offensichtlich mit einer anderen Intelligenz, weil sie tun, was sie sollen, ohne unser Zutun. Wenn man sich einfach die Tatsache vor Augen führt, dass wird zwar sehr viel können und uns momentan dafür interessieren, am Mars eine Kolonie zu bilden, aber nicht einmal in der Lage sind zu verstehen, wie ein Käfer, der über den Tisch lauft, eigentlich wirklich funktioniert, dass wir ihn zwar zerlegen, aber nicht mehr neu zusammenbauen können, dann werden wir offen.

Wir müssen das Staunen über all diese Prozesse bewusst fördern, und das geht nur, indem wir auch ein bisschen unseren Lebensrhythmus verlangsamen.

Weltweit besuchen mehr Menschen zoologische Gärten, machen Urlaub irgendwo im Grünen, an Gewässern oder am Meer, als sie Konzerte oder Fußballmatches besuchen. Menschen fahren bewusst aus der Stadt raus und sagen, sie gehen ins Grüne. Es ist ein tiefliegendes Bedürfnis, dass sich Menschen Zimmerpflanzen reinstellen, um sich ein bisschen Natur reinzuholen. Innerhalb des regenerativen Designs werden zum Beispiel auch Häuser nach den ursprünglichen Bedürfnissen des Menschen nach einer gewissen strukturierten Landschaft gebaut. Von pflanzlichen Mustern an Vorhängen bis hin zu den Baumaterialien und -formen, die nicht rechtwinkelig sondern organisch sind. Viele spüren, dass ihnen das gut tut, aber können nicht sagen, warum. Das muss man akzeptieren, dass es so was wie die Qualität ohne Namen gibt. Warum ein Haus heimelig wirkt, das muss man erfahren und empfinden, nicht messen und in Zahlen fassen.

Wo stehen wir auf dem Weg zum Regenerativ – weltweit bzw. in Österreich?
Was das regenerative Denken und Handeln betrifft, immer noch ziemlich am Anfang. Derzeit versucht man immer nur mit alten, ineffizienten Methoden komplexe Probleme schnell zu lösen. Viele rufen nach einem sprichwörtlichen starken Mann, der schnelle Lösungen herbeiführt, dabei muss man sich selbst auf einen philosophischen und spirituellen Erkenntnisweg machen. Sich die Frage stellen: Was will ich hier eigentlich? Will ich mein Potenzial regenerativ einsetzen anstatt degenerativ? Degenerativ bedeutet die Natur auszubeuten, ohne Rücksichtnahme auf andere. Das ist auch eine Frage der Erziehung und des gesellschaftlichen Narratives.

In vielen Kulturen, zum Beispiel in vielen indigenen Mythen, in der Maori-Kultur und vielen afrikanischen Kulturen, hat es einen sehr hohen Stellenwert ein guter Vorfahre zu sein. Dort sieht man sich oft als Teil eines langen, endlosen Bandes. Wenn man sich in diesen großen Zyklus hineindenkt, in Richtung Generationendenken, dann kann das hilfreich sein, eine andere Perspektive zu bekommen. Das kann am Anfang schwierig sein, weil dabei viele psychologische Momente zu tragen kommen. Wir leben in einer westlichen Kultur, in der wir den Tod verleugnen, in der der Tod nicht vorkommen darf. Alt zu werden nicht vorkommen darf. Ewiges Leben ist für viele Menschen die neue transhumanistische Fantasie. Dabei brauchen fast alle Veränderungen den Schmerz, die schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem, was ich bisher geglaubt habe, was ich bin, was ich tue und wie ich lebe. Wenn ich eine schwere Krankheit diagnostiziert bekomme, steht am Anfang ja auch das aggressive Ableugnen, aber wenn man es verarbeitet folgt die Akzeptanz.

Deshalb braucht es auch auf dem Weg zu einer regenerativen Denkweise einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess. Und der geht darüber hinaus, nur Energie zu sparen, nur ein E-auto zu fahren, nur dieses und jenes zu tun, damit es so weitergehen kann wie bisher. Wir wollen in das alte Leben zurück, wir wollen in die alte Normalität, wir sind es gewohnt, weil seit den 50er Jahren ja auch alles bergauf gegangen ist. Wir sind Kinder des Fortschrittes, Ich glaube, sich einzugestehen, dass diese Party des endlosen Wachstums vorüber ist, das zu akzeptieren, ist für die gesamte Gesellschaft ein schmerzhafter Transformationsprozess. Aber am Ende steht die befreiende Erkenntnis, dass es auch anders ziemlich gut gehen kann.

Das sage ich nicht aus einer politischen Ansicht heraus, sondern das ist einfach abgeleitet aus der Beobachtung von gegenwärtigen Ökosystemen. Auch aus einer reduktionistischen, wissenschaftlichen Perspektive sind wir ein Teil des Systems. Zum Beispiel sind mehr als ein Drittel unserer Gene Milliarden Jahre alt - nur etwa 6 Prozent unserer Gene sind im Rahmen unserer Primatenentwicklung hinzugetreten. Alle zentralen biochemischen Kreisläufe in Zellen sind schon vor Milliarden von Jahren erfunden und beibehalten worden, weil sie sich als sinnvoll erwiesen haben. Alle Lebensformen haben denselben genetischen Code, nutzen dieselben Aminosäuren und denselben Energiespeicher. Im Grunde funktionieren wir alle gleich.

Und ich finde das auch unheimlich angenehm. Wir blicken manchmal auf indigene Kulturen herab, die diese animistische Weltsicht haben, in der Tiere und die ganze lebende Welt wie Brüder und Schwestern gesehen werden. Man bezeichnet das als primitiv und rückständig, aber eigentlich zeigt die Genetik genau das. Wir sind 60 Prozent genetisch ident mit einer Banane.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten, aber so richtig in letzter Zeit, sind schon sehr viele Menschen draufgekommen, dass es eine andere Denkweise braucht. Mit diesen Ausführungen hätte ich vor 20 oder 30 Jahren, wo das Gefühl der Linearität und der ewigen Verbesserung und Sicherheit weit verbreitet war, wahrscheinlich niemanden ansprechen können.

Und jetzt, wo man sagt, das hätte ich mir nie gedacht, dass dieser und jener Krieg und diese Knappheit und jene Veränderung passiert. Da wacht man schon auf. Es gibt so viele Systeme - medizinische Systeme, der Zugverkehr zum Beispiel - die haben früher schon einmal besser funktioniert.

Welche Rolle spielen dafür einzelne Menschen?
Die größte. Weil in der Natur Veränderung immer von den kleinsten Einheiten ausgeht. In der regenerativen Entwicklung ist die Regionalität, die Essenz des Ortes, wichtig. Mir gefällt der Begriff sehr gut, weil jeder Ort einzigartig ist und ein anderes Potenzial hat. Wenn ich das zum Beispiel auf die Landwirtschaft ummünze, dann kann eine von oben verordnete, für alle gleich geltende Maßnahme, auch daran vorbeigehen, was Landwirtschaft ist. Jeder Hof hat sein eigenes Potenzial, eigene Böden, eigene Möglichkeiten, eine eigene Gemeinde und Umgebung, eigene Absatz- und Vertriebsmöglichkeiten. Im Endeffekt steht hinter einem landwirtschaftlichen Betrieb eine Familie und hinter der Familie einzelne Menschen. Das hat alles regional einen kulturellen, geschichtlichen Hintergrund. Und von diesem Ort, von diesem Potenzial ausgehend, können Prozesse entstehen, die keine Vorgabe brauchen. Wie in der Natur oder in unseren Körperzellen könnte alles von selbst funktionieren, auf Umweltreize reagieren und sich selbst organisieren.

Und Unternehmen?
Da gibt es einen ganz eigenen Bedarf. Im Endeffekt können Sie alles das, was wir bisher gesagt haben, auch auf Unternehmen verschiedener Größe umlegen. Die klassische Management-Philosophie ist ein Top-Down-Ansatz der Kontrolle, des von oben verordneten Effizienzsteigerns. Alle Qualitätsmanagement-Ideen funktionieren so, einen Vorgesetzten zu haben. Das sind alles hierarchische, von oben dominierte Systeme, die es in der Natur in der Form nicht gibt, denn dort sind es Bottom-up-Systeme. Die Verfechter des regenerativen Managements sagen, wir können die natürlichen Prozesse, die natürlichen Systemen zugrunde liegen, auch auf das anwenden, indem man mehr Autarkie in wenig regulierten, kleineren Abteilungen oder Teams zulässt und deren Innovation und Kreativität mehr Raum gibt.

Wenn man erkennt, dass man am Ende eines adaptiven Zyklus angekommen ist, in dem durch Effizienzsteigerungsmaßnahmen nur mehr geringfügige Zuwächse erreicht oder überhaupt nur mehr der Ist-Zustand beibehalten werden kann, dann weiß man, dass man wieder Freisetzungsphasen braucht. Rückwärtsschleifen. Und das scheint bei vielen im Management anzukommen zu sein - dass man das Leben und die Psyche des Menschen, nicht von dem Output der Firma trennen kann und als Unternehmen lebendige Kulturen erschaffen muss. Arbeitet man mit Bestrafungen, ohne Mitspracherecht, und hat nur die Effizienz im Blick, geht das auf Kosten der Natur und auf Kosten der Individuen. Die massive Effizienzsteigerung beutet auch Degeneration des menschlichen Potenzials.

Es wird dann natürlich sehr schnell gesagt, dass es anders nicht funktioniert. Wo käme denn zum Beispiel ein großer Online-Händler hin, wenn jetzt jeder Mitarbeiter nach Gutdünken alles selber machen könnte? Deshalb suchen wir nach Fehlern, Lösen ein Problem nach dem anderen, lassen uns von Betriebsberatern unterstützen und kommen doch nicht vorwärts.

Beim regenerativen Entwickeln geht es eher um das Erkennen und Fördern von Potenzial. Nach Potential, nach Möglichkeiten zu suchen kann effektiver sein als nach Fehlern und Problemen zu suchen.

„Nach Potenzial, nach Möglichkeiten zu suchen, kann effektiver sein, als nach Fehlern und Problemen zu suchen.“

Potentiale zu erkennen, klingt abstrakt. Was bedeutet das für das tägliche Leben?
Im Endeffekt heißt Regeneration, das Leben in den Mittelpunkt jeder Handlung und jeder Entscheidung zu stellen. Egal, welche Aspekte des Lebens das sind. Der Mensch ist Geburtshelfer von natürlichen, emergenten Systemen, und das kann unheimlich euphorisch machen. Ich bin gerade dabei, wieder Bäume zu pflanzen - morgen habe ich fast 100 Stück vor. Das ist natürlich anstrengend, aber es ist auch gleichzeitig schön zu sehen, dass man natürliche Sukzessionen sogar beschleunigen kann. Der Mensch hat eben auch die Möglichkeit, positives und gutes zu tun.

Edward O. Wilson hat einmal gesagt "Wir haben das Potenzial, diesen Planeten in kürzester Zeit zu einem Paradies zu machen." Mit demselben Erfindungsgeist, mit derselben Akribie, mit demselben menschlichen Hintergrund. Ich kann mich entscheiden, ob ich extraktiv oder regenerativ wirtschaften will - so oder so bin ich nach ungefähr 4.000 Wochen tot. Nur war ich Teil des endlosen Bandes und habe es für die Nachkommenschaft weiter gewebt. Wenn man Kinder hat, sieht man das vielleicht noch erheblich anders als wenn man keine hat.

Nachhaltigkeit heißt im Englischen ja Sustainability, von sustain, zu erhalten. Aber erhalten ist zu wenig, weil schon so viel kaputt gegangen ist. Ich muss wieder aufbauen, regenerieren. Das Regenerieren ist die Grundvoraussetzung, dass ich irgendwann einmal wieder nachhaltig wirtschaften kann. Ein System, das sich nicht regenerieren kann stirbt früher oder später.

Was verstehen Sie unter Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit ist zu einem wenig hinterfragten Schlagwort geworden, oft auch mit Greenwashing verbunden. Das liegt auch am psychologischen Moment, zu sagen, ich bin nachhaltig, ich bin gut, wenn ich keinen Schaden mehr anrichte. Wenn ich meine Kinder nicht schlage, bin ich ja auch noch kein guter Vater. Das ist zu wenig. Ich muss fördern, und wie ein Gärtner versuchen optimale Bedingungen zu schaffen, damit sich dieser Organismus nach seinem Potenzial entfalten kann. Ich finde gerade das Gärtnern zeigt, was es bedeutet, mit natürlichen Systemen umzugehen. Ich bringe ja die Gemüsesorten nicht aus mir hervor, bin nicht dafür verantwortlich, dass ihre Zellen wachsen und reifen, sondern dafür, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Natur macht, was sie von selbst kann. Es ist sicher gut, einem System keinen Schaden zuzufügen, aber es ist zu wenig - und auch weniger spannend. Das psychologische Moment, das wir brauchen ist, etwas Positives bewirken zu wollen - es ist ja auch, warum sich viele Leute zum Beispiel in Hilfsorganisationen unentgeltlich, ehrenamtlich engagieren.

Ich bin kein Öko-Fundamentalist und Radikalität liegt mir nur im Sinne von "Radix", die Wurzel. An die Wurzel des Problems zu gehen. Ein Umweltanwalt in den USA hat am Ende seiner Karriere gesagt, er dachte, dass 30 Jahre gute Wissenschaft unsere ökologischen Probleme lösen könnten. Er hat 30 Jahre lang versucht, den Leuten das Wissen zu vermitteln und es ist nichts passiert - weil die wahren Probleme Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit sind. Dinge, mit denen die Naturwissenschaft nichts am Hut hat und mit denen sie nicht umgehen kann. Er war überzeugt, dass wir einen kulturellen und spirituellen Wandel brauchen. Sie haben gefragt, was jede*r Einzelne beitragen kann. Ich sage, jede*r Einzelne ist Teil dieses kulturellen und spirituellen Wandels. Das hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern damit, sich mit den Fragen des Lebens auseinanderzusetzen und sein Glück nicht vom nächsten Einkaufsrausch abhängig zu machen.

Unser ganzer Fortschritt, unser ganzes Dasein, unsere globalisierte Gesellschaft basiert derzeit auf den Grundannahmen und auf dem Funktionieren von einem neoliberalen System. Aus dem schnell, einfach so auszusteigen, wird schwierig. Weil ja alles nach diesem System gemacht worden ist. Deshalb brauchen wir jetzt einen Transformationsprozess, in dem nicht das Wirtschaftssystem tonangebend ist, sondern die natürlichen Systeme und die Menschen im Vordergrund stehen. Nicht das Suchen nach neuen Erfindungen, neuer Energie. Das sind schöne und gute Erfindungen, aber sie können die zugrunde liegenden Probleme nicht verändern, nicht lösen.

Das nimmt jede*n Einzelne*n plötzlich in die Verantwortung. Wir wissen, wie Menschen reagieren, wenn sie vor einer Verantwortung stehen, die sie unter Druck setzt oder ihr bisheriges Weltbild infrage stellt. Sie reagieren mit Anspruchsdenken: Ich habe Anspruch auf diesen Urlaub, ich habe Anspruch auf dieses Haus und Auto, ich habe Anspruch auf jene Unterhaltungselektronik. Das Anspruchsdenken, sich das erarbeitet und erwirtschaftet zu haben - das hilft uns nicht. Regeneratives Denken könnte alle Lager vereinen, sowohl jene, die sagen, wir können alle weitermachen wie bisher, als auch die, die sagen, wir müssen alles abschalten und ins Mittelalter zurückkehren. Es wäre die dritte Alternative, der dritte Weg. Und dieser entsteht in vielen Wirtschaftsbereichen auch schon. Das man sich zum Beispiel in der Bauindustrie an der Natur orientiert und beginnt alte Gebäudesubstanzen mit baubiologischen Maßnahmen wieder zu sanieren. Ich denke, dass die Baubiologie mit regionalen Materialien, wie Lehm und Holz eine sehr große Zukunft haben wird. Oder dass man in der Kunststoffindustrie statt den fossilen Kunststoffen natürliche Polymere nutzt. Zwar recyceln wir immer mehr, aber wenn man sich den relativen Anteil anschaut, weniger, weil wir immer mehr Müll produzieren. Deshalb müssen wir wirklich in Richtung Cradle-to-Cradle kommen - dass Substanzen am Ende ihrer Lebenszeit wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden können. Das ist anstrengend, kostet Geld und ist aufwendig, ist aber die einzige Möglichkeit.

Und was auch wichtig ist, ist dass es eigentlich ein endloser Prozess ist. Es gibt endliche und unendliche Spiele. Das Leben ist ein unendliches Spiel. Man kann es nicht gewinnen. Man kann nur teilnehmen und so lange wie möglich im Spiel bleiben. Das finde ich sehr schön.

„Ich bin kein Öko-Fundamentalist und Radikalität liegt mir nur im Sinne von „Radix“, die Wurzel, an die Wurzel des Problems zu gehen.“

Das Interview führte Michaela R. Reisinger - das Gespräch kam im Rahmen der Rohrauer Gespräche in der Haydnregion Niederösterreich zustande. Wir bedanken uns herzlich für die Unterstützung!

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