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Wo wir uns als Menschen spüren

Was haben Kunst und Kultur mit Nachhaltigkeit zu tun und was leisten sie für unsere Gesellschaft?
Wir haben mit Mag. Bettina Leidl, Direktorin des KUNST HAUS WIEN, gesprochen.

Ein Blick von unten auf die bunte Fassade des KUNST HAUS WIEN, umrahmt und durchbrochen von Bäumen.
Foto: Paul Bauer

Lebensart: Warum sollte man unbedingt ins KUNST HAUS WIEN schauen, was ist das Besondere an Ihrem Haus?

Bettina Leidl: Das KUNST HAUS ist schon von der Anmutung her etwas Besonderes. Man sieht gleich, das Haus wurde von einem Künstler gestaltet. Die Bäume wachsen aus den Fenstern, die sogenannten Baummieter. Es ist niederschwellig, man geht nicht über große Treppen hinauf. Bei vielen Museen muss man den Eingang ja erst erklimmen. Friedensreich Hundertwasser ist einer der bekanntesten österreichischen Künstler der Nachkriegszeit. Er hat in seiner Arbeit versucht, Kunst, Leben und Ökologie zu verbinden – das sieht man in seinem Werk, in seiner Architektur. In unserer Programmierung schließen wir an seine die Ideen an und laden regelmäßig Künstlerinnen und Künstler ein, die sich aus heutiger Sicht mit den zentralen Fragen unserer Gesellschaft wie Klimaschutz, Verlust der Biodiversität, Recycling, aber auch mit einem generationenübergreifenden und gerechten Gesellschaftsmodell beschäftigen.

Wir sehen es als unsere Aufgabe als öffentliche Einrichtung, einen Beitrag zur Transformation der Gesellschaft zu leisten, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf ökonomischer und ökologischer Ebene.

Frontalansicht der bunten Fassade des Kunsthauses und des ebenerdigen Eingangs.
Foto: Thomas Meyer

Sie haben den Grundstein für die Zertifizierung von Museen mit dem Umweltzeichen gelegt und das KUNST HAUS war auch tatsächlich das erste solchermaßen zertifizierte. Ist die nachhaltige Ausrichtung ein Vorteil, zum Beispiel in der Coronakrise?

Der Prozess zu einem nachhaltigen Museumsbetrieb wurde gemeinsam mit dem Umweltministerium, Verein für Konsumentenschutz, Ökologieinstitut sowie ICOM-Austria angestoßen. Im Zertifizierungsprozess, der zirka ein halbes Jahr in Anspruch nimmt, war das ganze Team des KUNST HAUS eingebunden. Die Mitarbeiter*innen schätzen es, dass sie ihre ökologische und nachhaltige Einstellung nicht an der Bürotür abgeben müssen. Menschen, die zu Hause umsichtig und nachhaltig agieren, stoßen auch kleine Veränderungen an, die ein anderes Miteinander bringen.

Mittlerweile haben auch andere Museen den Zertifizierungsprozess durchlaufen, einige sind dabei – auch mit sehr innovativen Ansätzen. Für Theater werden gerade die Richtlinien erarbeitet.
 

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Die Ausstellung "Nach uns die Sintflut" ist noch bis 05.04.2021 im KUNST HAUS WIEN zu sehen. Foto: Nicole Six, Paul Petrisch

Was haben Kunst und Kultur mit Nachhaltigkeit zu tun?

Nachhaltigkeit ist für mich ein Blick auf die Welt und auf die Gesellschaft: Darauf, wie man ihr gegenübertritt, wie man Natur und die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, nutzt, mit dem Bewusstsein, dass wir die Welt so an die nächste Generation weitergeben sollten, dass diese noch eine lebenswerte Umwelt vorfindet. Das ist eine große Verantwortung, der wir uns stellen müssen. Künstlerinnen und Künstler zeigen Probleme auf, weisen mit ihrer Arbeit auf Verwerfungen in unserer Gesellschaft hin, auf eine sehr eindrückliche Weise – oft nur mit einem Bild, mit einem Foto, mit einer Installation. Die Künstlerinnen und Künstler arbeiten oft eng mit Wissenschaftler*innen und Forschungsinstitutionen zusammen, bauen auf deren wissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Sie ermöglichen mit ihren Werken eine emotionale Berührung und damit einen Zugang zu diesem Wissen, zu sehr komplexen Themen.

Ein rostiger Kahn auf einem Gewässer bei dem Himmel und Wasser verschmelzen. For dem Kahn watet eine Frau durch das Wasser.
Die Ausstellung "Nach uns die Sintflut" beschäftigt sich entlang des Themas Wasser mit den Auswirkungen des Klimawandels. Foto: Solmaz Daryani

Welche Themen greifen die Künstler*innen dabei auf?

Unsere aktuelle Ausstellung „Nach uns die Sintflut“ beschäftigt sich entlang des Themas Wasser mit den Auswirkungen des Klimawandels und bezieht dabei unser kapitalistisches Wirtschaftssystem mit ein. Letztes Jahr zeigten wir eine Ausstellung des deutschen Künstlers Claudius Schulze, der sich mit dem Verlust der Biodiversität auseinandergesetzt hat, aber auch mit der Bionik, bei der unter anderem Miniroboter eingesetzt werden, die Bienen nachahmen und ihre Bestäubungsarbeit übernehmen. Es ist bedrückend zu sehen, dass sich dort, wo eigentlich die ganze Energie in den Erhalt einer Art, der Bienen, fließen sollte, jetzt ganze Industriezweige mit deren Ersatz beschäftigen. Diese Ambivalenz hat der Künstler in seiner Arbeit sehr eindrücklich aufgezeigt.

Ein Blick über das breite Flussdelta des Tagliamento mit vielen Verzweigungen.
Herwig Turk portraitiert eine Ausnahmeflusslandschaft: der Tagliamento. Foto: Herwig Turk

Ganz aktuell zeigen wir eine Ausstellung, in der sich Herwig Turk mit der Flusslandschaft des Tagliamento auseinandersetzt. Das ist das riesige Flussbett, das man auf dem Weg nach Venedig passiert. Er ist einer der ganz wenigen Flüsse, die nicht reguliert wurden – eine Ausnahmeflusslandschaft. Im Herbst zeigen wir eine Ausstellung der niederländischen Künstler*innen Robert Knoth und Antoinette De Jong, die sich mit den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe in Fukushima beschäftigen. Sie zeigen, wie sich die Natur der Zivilisation ermächtigt und sie zurückerobert. Es sind sehr eindrückliche und stimmungsvolle Bilder, die auch ein aktuelles politisches Thema aufgreifen: Im Rahmen des europäischen Green New Deals, der die nachhaltige Transformation der Wirtschaft vorantreiben soll, wird diskutiert und lobbyiert, inwieweit Atomkraft eine grüne und nachhaltige Energiequelle ist.

Wird sich diese Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit durch die Pandemie verändern?

In der Coronakrise hat die Klimakrise keine Pause gemacht. Das Erschreckende ist, dass in der öffentlichen Diskussion nicht darüber gesprochen wird, wie es weitergeht und wie wir mit der Klimakrise umgehen werden. Die Coronakrise ist eine Folge davon, wie wir mit der Natur umgehen, wie wir immer weiter in Wildhabitate eindringen und somit den Viren den Weg bereiten. Die Menschen müssen ihr Verhältnis zur Natur neu denken. Wir haben uns schon so weit von der Natur entfernt, dass wir uns nicht mehr als ein Teil davon verstehen. Die Coronakrise macht uns darauf aufmerksam, dass wir Menschen auch eine Spezies sind, die gefährdet ist. Die Diskussion um das Anthropozän führt uns vor Augen, dass es auch um das Ende der Menschheit geht. Die Erde und die Natur passen sich seit Jahrmilliarden an. Die Erde wird sich weiter anpassen, nur wird sie für den Menschen nicht mehr bewohnbar sein.

Merkt man dies auch in der Kunst?

Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem mit welchen Themen die Künstler*innen arbeiten. Wie immer in der Kunstgeschichte gibt es Künstler*innen, die aktuelle Themen aufnehmen, denen es ein Anliegen ist, sich einzubringen und auf Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Was sich verändert hat, ist die Dringlichkeit, mit der Themen bearbeitet werden. Das Thema der Nachhaltigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und kein Randthema mehr, wie in den 70er und 80er Jahren, wo Friedensreich Hundertwasser künstlerisch gearbeitet hat. Die Klimabewegung ist dank Fridays for Future eine zivilgesellschaftliche Bewegung geworden. Das spürt man bei Künstler*innen ebenso.

Ein grünes Banner mit dem Lebensart-Schriftzug weist auf die Abomöglichkeit mit 5 Ausgaben pro Jahr hin

Wird Corona künstlerisch verarbeitet?

(lacht) Sehr stark! Corona ist zum Beispiel in der Fotografie sehr präsent. Wir veranstalten alle zwei Jahre ein Fotofestival FOTO WIEN, das leider aufgrund der hohen Fallzahlen auf März 2022 verschoben werden musste. Wir planten eine wunderschöne Installation von Judith Huemer zu zeigen, die Künstlerfreunde auf der ganzen Welt während des ersten Lockdowns einlud, den Himmel zu fotografieren. Das menschenleere Wien war ein beliebtes Sujet und auch wie sich eine Stadt während der Lockdowns veränderte. Mit Einblicken in die Isolation, als auf einmal das Zuhause zum Thema wurde. Aber die Frage „Was lernen wir aus der Pandemie, was bleibt, ob künstlerisch oder in der Gesellschaft?“ ist offen. Von der Spanischen Grippe hat sich kein Narrativ ins kollektive Gedächtnis festgeschrieben.

Was würden Sie sich wünschen, dass wir daraus lernen?

Dass wir die Ungleichheit in der Gesellschaft, die durch die Pandemie verstärkt wurde, wieder ausgleichen. Wir sehen weg, wo Armut ist, wo Menschen unter prekären Verhältnissen wohnen und arbeiten. Menschen in Billigjobs, die vom Lohn ihrer Arbeit ihre Familie nicht versorgen können. Ich wohne in der Nähe einer Suppenküche und sehe, wie dramatisch der Zulauf in den letzten Monaten zugenommen hat. Durch die Pandemie sind mehr Menschen auf Hilfe angewiesen, die vermutlich bis vor ein paar Monaten einen ganz normalen Job gehabt haben.

Bettina Leidl in Portraitansicht: Sie hat schulterlange blonde Haare ud helle Augen. Sie lächelt.
Mag. Bettina Leidl, Direktorin des KUNST HAUS WIEN. Foto: Stefan Olah

Wenn Sie an 2020 zurückdenken: Wie schätzen Sie die Situation von Kunst- und Kulturschaffenden ein? Wie geht es Künstler*innen in dieser Ausnahmesituation?

Am 11. März 2020 wurden alle Museen geschlossen, das war schon sehr dramatisch. Die Mitarbeiter*innen mussten in Kurzarbeit, Umstellung auf Homeoffice, mit dem die einen besser, die anderen weniger gut zurechtkamen. Aber vom ersten Tag an haben die Kultureinrichtungen gemeinsam an der Wiederöffnung gearbeitet, Konzepte entwickelt, unter welchen Rahmenbedingungen zum Beispiel ein Museumsbesuch sicher ist. Die Kunst- und Kulturbranche war sehr kreativ und innovativ und hat gute Sicherheitskonzepte erarbeitet. Die Stadt Wien hat zum Kunst- und Gesundheitsgipfel geladen, damit die Kulturbranche und die Gesundheitsverantwortlichen die jeweiligen Erfordernisse verstehen. Zum Beispiel ist es etwas anderes, ob man drei Stunden an einem Platz in einem Konzert sitzt oder durch ein Museum geht, ob man Schulklassen führt oder Einzelpersonen mit ausreichend Abstand durch ein Museum schlendern.

Für Künstler*innen selbst ist es ungleich schwieriger, Ausstellungen und Projekte wurden verschoben oder wie Messen gleich ganz abgesagt. Im Theater- und Musikbereich ist die Situation noch dramatischer. Dankenswerterweise gibt es zahlreiche Unterstützungen auf Bundes- wie auf Stadt- und Landesebene. Für alle freiberuflichen Künstlerinnen und Künstler ist das nun fast ein Jahr bestehende Auftrittsverbot katastrophal.

Wie sehen Sie die Rolle von Kunst und Kultur für die Gesellschaft? Was leistet sie für uns?

Kunst und Kultur helfen uns, Gesellschaft zu verstehen und Gemeinschaft zu erleben. Sie sind, wo wir uns als Menschen spüren. Sie schaffen einen Raum, über Wünsche, Sehnsüchte und Ängste zu reflektieren, und uns darüber auszutauschen. Kunst und Kultur sind prädestiniert, Veränderungsprozesse zu unterstützen, Neues zu wagen.  

In der Pandemie wurden die Aufgabe und Relevanz von Kunst und Kultur immer wieder hinterfragt. Kultureinrichtungen leisten einen enormen Beitrag für die Gesellschaft und für das Verständnis von Gemeinschaft. Mit ihrer unmittelbaren Nähe zur Öffentlichkeit haben sie die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse zu teilen und somit die Dringlichkeit zur Veränderung zu betonen. Museen und Theater sind jene Orte, an denen wir die Wirklichkeit reflektieren können, Veränderungen nochmals vorgespielt bekommen und dadurch diese Veränderung, die wir als Gesellschaft gerade durchlaufen, verstehen lernen. Gerade in dieser Krise ist es wichtig, Gemeinschaft verstehen zu lernen, sich zu verorten, um uns weiterzuentwickeln und zu erkennen, warum wir solidarisch denken müssen.

Was ist Ihr Ausblick für 2021 – wie wird das Jahr werden?

Ich hoffe, es wird ein gutes Jahr werden. Ich hoffe, dass die Impfungen voranschreiten, um uns Sicherheit zu geben, und wir uns wieder trauen, uns zu begegnen. Diese Angst voreinander ist etwas, das erschreckend ist – dass wir uns nicht mehr umarmen können, dass uns das gesellige und gemeinsame Erleben genommen wurde. Da hoffe ich, dass wir ab dem Sommer wieder ein bisschen Normalität zurückbekommen.

Wie kann ein positiver Neustart nach Corona für Kunst und Kultur aussehen?

Das Publikum wird zurückkommen und die Aufmerksamkeit und Relevanz, die wir mit unseren Ausstellungen planen und bereitstellen, wird wieder ein Gegenüber haben. Ein Gegenüber, das sich über neue Inhalte freut, sie diskutiert. Die Anregungen, die Künstler und Künstlerinnen mit ihrer Arbeit leisten, den Diskursraum, den sie öffnen, der braucht einen Widerhall – und den wünsche ich mir.

www.kunsthauswien.com

Das Interview führte Michaela R. Reisinger.