Andere beschützen ist ein intuitives Verhalten
Menschen lernen nicht nur für sich selbst: Wir lernen sehr schnell, Verhaltensweisen zu vermeiden, die uns schaden. Dabei ist Schmerz ein starkes Lernsignal: Er sagt uns sofort, welche unserer Handlungen gefährlich sind.
Aber als soziale Lebewesen müssen wir auch berücksichtigen, welche Konsequenzen unsere Handlungen für unsere Mitmenschen haben. Wie funktioniert "prosoziales" Lernen und wie werden prosoziale Lernprozesse und Entscheidungen im Gehirn umgesetzt? Diese Fragen haben Forscher*innen um Claus Lamm an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien untersucht. Sie konnten zeigen, dass Menschen sogar besser darin sind, ihre Artgenossen vor Schmerzen zu beschützen als sich selbst. Die Ergebnisse der Studie erscheinen aktuell in der Fachzeitschrift "The Journal of Neuroscience".
Das Forschungsteam vom Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden an der Universität Wien untersuchte, wie Menschen ihr Verhalten anpassen, wenn es schmerzhafte Konsequenzen für eine andere Person haben kann. Um die Grundlagen dieser Lernprozesse im Gehirn zu identifizieren, untersuchten die Forscher 96 männliche Versuchspersonen mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomographie (fMRT). In der Studie mussten die Versuchspersonen wiederholt zwischen zwei Symbolen wählen. Eines der beiden Symbole löste sehr oft einen schmerzhaften Elektroschock aus, während das andere Symbol nur selten zu einem Schmerzreiz führte. Durch wiederholtes Ausprobieren sollten die Versuchspersonen lernen, durch welche Auswahl sie die Anzahl der schmerzhaften Schocks reduzieren konnten. In der Hälfte der Versuche mussten die Versuchspersonen diese Entscheidungen treffen, um für sich selbst Elektroschocks vermeiden. In der anderen Hälfte der Versuche mussten sie die Entscheidungen für einen zweiten Versuchsteilnehmer treffen, welchen sie vor dem Experiment kennengelernt hatten.
Es zeigte sich, dass die Versuchspersonen bessere Entscheidungen trafen, wenn sie für die andere Person wählten. Durch mathematische Verhaltensmodelle konnten die Forscher*innen feststellen, dass die Versuchspersonen sensibler zwischen dem besseren und dem schlechteren Symbol unterschieden, wenn ihre Auswahl die andere Person betraf. Im Gehirn spiegelte sich dies in einer erhöhten Aktivität im ventromedialen präfrontalen Kortex wieder – ein Gehirnareal, welches unter anderem für die Bewertung von Umweltreizen und Handlungsoptionen zuständig ist. Zudem kommunizierte dieses Hirnareal während Entscheidungen für den anderen verstärkt mit dem rechten temporoparietalen Cortex. Dieses Hirnareal wird vor allem mit sozialer Kognition, wie etwa der Perspektivenübernahme, in Verbindung gebracht. Prosoziale Entscheidungen könnten daher durch ein Zusammenspiel von Gehirnregionen entstehen, die einerseits Bewertungsprozesse, andererseits auch soziale Informationen verarbeiten.
Wir sind besser darin, andere vor Schmerzen zu bewahren, als uns selbst
Laut dem Erstautor der Arbeit, Lukas Lengersdorff, sind die Ergebnisse ein wichtiger Hinweis darauf, dass Menschen nicht immer egozentrisch handeln. "In bisherigen Studien zum prosozialen Lernen wurde fast immer gefunden, dass Menschen "egoistische" Lerner sind, also besser für sich selbst lernen. In diesen Studien ging es aber immer um das Erspielen von Geld. Unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass sich der Effekt gewissermaßen umdreht, wenn nicht das finanzielle, sondern das körperliche Wohlbefinden und der Schutz einer anderen Person auf dem Spiel steht", so Lengersdorff. Damit unterstütze die Studie sozialpsychologische Theorien, dass prosoziales Verhalten für den Menschen ein intuitiver Akt ist.