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Die Rennaissance der Bitterkeit

Genussschwärmereien von Jürgen Schmücking

Dem Bitteren wurde und wird Unrecht getan. Probieren Sie es. Tippen Sie „Bitter“ und „Geschmack“ in die Suchmaschine Ihres Vertrauens. Da kommt alles, nur nichts Gutes: die Metapher vom „bitteren Beigeschmack“, der ungenehme bittere Geschmack im Mund, und in Gesundheitsforen wird über Refluxkrankheiten debattiert. Also Schluckauf und so. Auch da spielt das Bittere eine Rolle. Zartbitterschokolade, Radicchio tardivo oder India Pale Ale kommen – wenn überhaupt – erst viel später.

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Jürgen Schmücking auf den Spuren des Genusses. Foto: Liga Jürgen Schmücking auf den Spuren des Genusses. Foto: Liga

Dabei sind das die Speerspitzen der Geschmacksrevolution, die dem Bitteren seine ursprüngliche Bedeutung wieder erkämpfen könnten. Die Bedeutung, die es hatte, bevor wir die Bitterstoffe aus unseren Nutzpflanzen herausgezüchtet und die feinbitteren Noten der Kaffeebohne in einem Meer aus Milch und Zucker ersäuft haben. (Ich bin überzeugt, dass der Café Latte zur Degeneration unseres Geschmacks mindestens genauso viel beiträgt, wie das von allen verteufelte Glutamat.)

Als Kinder mögen wir den bitteren Geschmack wirklich nicht so gern. Die Kleinen verziehen postwendend das Gesicht und reagieren gereizt, sobald die entsprechenden Rezeptoren gereizt werden. Die Strategie lautet entweder Vermeidung oder Milderung. Beides nachvollziehbar, beides falsch. Also nicht grundfalsch, aber letztlich führen doch beide Strategien zu einer verkümmerten Geschmacksentwicklung. Am einfachsten funktioniert das beim Kakao. Den trinkt jedes Kind gern. Ich meine allerdings nicht die Granulate und Instant-Pulver der großen Marken. Die sollten boykottiert werden, wo es nur geht. Es gibt auch richtigen Kakao. Die Zubereitung dauert halt länger. Der Sprössling lernt dadurch lustvoll, bittere Töne zu genießen. Oder bei der Schokolade einfach auf die Weichmacher verzichten. Milchschokolade und zartbittere Sorten sollten sich die Waage halten. Schoko-Eier sind zu Ostern lustig. Den Rest des Jahres sollten sie ignoriert werden.

Bei der Schokolade und beim Bier sehen wir im Moment übrigens das Pendel in die andere Richtung ausschlagen. 100 % Criollo-Bohnen aus Madagaskar. 100 %!! Da ist kein Promille Milch und nicht ein Körnchen Zucker dabei. Diese Schokoladen sind in den ersten drei Kau-Minuten eine echte Herausforderung an alle Geschmacksrezeptoren. Vor allem aber für die, die für die Wahrnehmung der Bitterstoffe zuständig sind. Mit der Zeit (in erster Linie durch Wärme und Speichel) ändert sich der Geschmack. Das dauert aber, und nicht jeder hat die Geduld und die Ausdauer, auf die sensorische Komplexität hochprozentiger Schokoladen zu warten. Also bleiben die ‚puros’ den Hardcores vorbehalten.

Beim Bier ist das nicht ganz unähnlich. Das India Pale Ale, kurz IPA, ist ein Bierstil, der sich durch deutliche Bittere vom Rest der Bierwelt abhebt. Das ist gut so, schmeckt nicht allen, aber vielen. Zuständig für den Bittergeschmack ist übrigens der Hopfen. Im Zuge des craft beer Hypes versuchen sich gerade die Kleinstbrauereien gegenseitig in Sachen Bitterstoffe zu übertreffen. Hopfenstopfen bis zum Abwinken scheint die Devise zu sein. Ob die Kunden diesen Weg mitgehen, ist indes fraglich.


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