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„Global Identity“

Das egozentrische Weltbild hat ausgedient. Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht es ein tieferes Globalbewusstsein sowie ein Verständnis für unsere wechselseitige Verbundenheit. Lesen Sie, warum Weltenbürger*innen glücklicher sind.

Zwei über die Köpfe zweier Menschen erhobene, ineinander verschränkte Hände - eine Weiß, eine Schwarz.
Foto: Jo jo, Unsplash

Wenn ein Kleinkind vor dem Spiegel steht, ergeben sich teils spannende, teils heitere Situationen. „Wer ist das dort im Spiegel?“, fragt sich das Kind und rennt auch mal gegen die Glasscheibe. Der Grund für dieses Verhalten ist seit Langem erforscht. Kleinkinder haben noch kein Ich-Bewusstsein und entwickeln die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, erst im Alter von 6 bis 18 Monaten. In den ersten Wochen erleben sich Säuglinge noch ganz verbunden mit der Mutter, ab zwei bis drei Monaten wird dann der Körper als etwas Eigenes erfahren und später kommt auch der eigene Wille hinzu.

Von jetzt an kann es recht schnell gehen, denn das neu erkannte Ich will entdeckt werden. Das ist wichtig und gut für die Entfaltung eines Menschen – bloß ein „Zuviel vom Ego“, das wir heutzutage vielerorts erleben, verursacht massive gesellschaftliche Probleme.

Unser Weltbild schafft ein gefährliches Milieu

Unser egozentrisches Weltbild hat ein Milieu entstehen lassen, in der jede und jeder um den eigenen Vorteil kämpfen muss und wir einander beherrschen wollen. Wir glauben, dass wir als Individuen isoliert, vom Rest der Welt getrennt existierten. Ich bin ein Fleischklops und du bist ein Fleischklops, Ende der Geschichte! Nicht nur voneinander, auch von der Natur glauben wir uns getrennt: Wir stellen uns an die Spitze der Nahrungskette, halten uns für die Krone der Schöpfung und legitimieren damit unseren Raubzug nach Ressourcen – ohne jedoch zu verstehen, dass wir im Grunde genommen uns selbst berauben.

Diese trennende, in unserer westlichen Welt stark vorherrschende Sichtweise macht es schwer, den Blick auf größere Zusammenhänge zu richten. Kein Wunder, dass in einer solchen Sichtweise die Konkurrenz, das Ego und der Eigennutz unser Denken und Handeln dominieren. Wenn wir in eine nachhaltige Zukunft gelangen wollen, müssen wir diese Denkweise verändern und einen weiteren Entwicklungsschritt wagen.

Wie erlangen wir eine Sicht auf die Welt, in der wir uns mit der Natur und unseren Mitmenschen im Einklang fühlen?

Vom Ego- zum Globalbewusstsein

Wie kommen wir aber in ein verbundenes Bewusstsein, das die Weichen für eine echte Kehrtwende stellt? Wie erlangen wir eine Sicht auf die Welt, in der wir uns mit der Natur und unseren Mitmenschen im Einklang fühlen? Die Wege dahin sind so vielfältig wie der Globus selbst. Wer in jungen Jahren viel Zeit in der Natur verbringt, hat nachweislich ein größeres Bewusstsein für die eigene Verbundenheit mit der Natur, so Riyan van den Born, Professorin für sozio-ökologische Wechselwirkungen. Wer schon früh mit anderen Menschen und Kulturen in Kontakt kommt, wird für diese auch eher Mitgefühl und Empathie entwickeln. Abseits individueller Zugänge lässt sich das Globalbewusstsein aber auch erlernen.

Cees Hamelink, emeritierter Professor für Internationale Kommunikation, Medien, Religion und Kultur schreibt, dass das Globalbewusstsein sowohl auf Wissen als auch auf Emotionen beruht. Ersteres ist einfach zu erklären. Wer um die Verbundenheit unserer Welt nicht weiß, kann nur schwer ein Bewusstsein dafür bekommen. Als zukunftsfähige Menschen müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass der Sauerstoff, den wir atmen, das Wasser, das wir trinken, und die Lebensmittel, die wir essen, untrennbar mit den Ökosystemleistungen des Planeten zusammenhängen. Wir müssen uns ebenso im Klaren sein, dass die meisten unserer heutigen Arbeits-, Wirtschafts-, Finanz- und Kommunikationsprozesse global verflochten sind. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es kaum etwas, das wirklich isoliert betrachtet werden kann – und ein Verständnis darüber ist die Grundlage für mehr Globalbewusstsein.

Der Mehrheit unserer Bevölkerung sind diese globalen Zusammenhänge mittlerweile klar. Dennoch sind wir weit davon entfernt, uns als die EINE große Weltgemeinschaft zu verstehen, die gemeinsam Verantwortung für unsere Zukunft übernimmt. Dies bringt uns zur zweiten Komponente des Globalbewusstseins: einer emotionalen und ethischen Kompetenz in Form von Menschlichkeit, Empathie und Mitgefühl, die entwickelt werden muss. James Liu, Psychologieprofessor an der Massey Universität, und Matthew Macdonald umschreiben sie mit der goldenen Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg auch keinem anderen zu.“ Doch wie gelingt das?

Achtsamkeitspraktiken als Schlüssel zum Globalbewusstsein

Ansätze hierzu liefern Meditationen und Achsamkeitspraktiken, allen voran die sogenannte „Metta-Meditation“, auch „Meditation der liebenden Güte“ genannt. Bei dieser aus dem Buddhismus stammenden Praxis wird eine liebevolle und wertschätzende Haltung allen Lebewesen gegenüber geübt. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich schon nach wenigen Minuten ein Gefühl der tieferen Verbundenheit mit anderen Personen einstellt. Bei längerer Anwendung verhilft es zu einem größeren Sinnerleben, einer positiveren Grundstimmung und besseren Beziehungen zu den Mitmenschen.

Achtsamkeitspraktiken kommen auch in der Nachhaltigkeitsforschung immer größere Bedeutung zu. Denn Achtsamkeit wirkt in vielerlei Hinsicht positiv auf unser Umwelt- und Sozialverhalten: Sie hilft bei der Klärung der eigenen Werte, was uns zum Beispiel weniger beeinflussbar durch Werbung oder Manipulation macht. Sie unterstützt beim Ausstieg aus überholten Konsumgewohnheiten und Kaufroutinen und steigert unsere Natur- und Weltverbundenheit. Durch Meditation kultivieren wir einen transpersonalen Zustand: Ein Zustand, in dem sich die persönliche Ich-Identität auf die gesamte Menschheit und das Leben selbst ausdehnt. Man geht für einen Moment in etwas Größerem auf. So fühlen sich achtsame Menschen tendenziell auch stärker mit der Natur verbunden als andere.

Das Verbundenheitsgefühl mit Menschen auf der ganzen Welt und die Sorge um deren Wohlergehen wird im wissenschaftlichen Kontext als „Global Identity“ bezeichnet. Dr. Laura Loy und Prof. Gerhard Reese, Umwelt- und Sozialpsycholog*innen an der Universität Koblenz-Landau, haben herausgefunden, dass Menschen mit einer hohen globalen Identität eher umweltfreundlich handeln, dem Klimawandel tendenziell eine höhere Relevanz zuschreiben sowie klimapolitische Maßnahmen eher unterstützen als Menschen mit geringer globaler Identität. Darüber hinaus fördert globale Identität soziales Engagement, etwa bei sozialen Aktionen, beim Fairtrade-Konsum oder bei der Spendenbereitschaft für Wohltätigkeitsorganisationen. Zugehörigkeit zu einer inklusiven, globalen Gemeinschaft zu empfinden, stärkt Werte wie Vielfalt, Fürsorge, Gerechtigkeit, Universalismus, Altruismus und Ökologie. Kurzum: Wir agieren nachhaltiger, wenn wir uns global verbunden fühlen!

Eine Illustration einer Hand, die eine stark vereinfachte Weltkugel hält. Auf der Kugel sind drei Orte markiert.
Illustration: Nadia Bormotova, iStock

DIE MEDITATION DER LIEBENDEN GÜTE

Die Metta-Meditation besteht aus vier Segenssprüchen. Als Vorbereitung atmen Sie einige Mal in Ihr Herz ein und aus dem Herzen wieder aus. Schließen Sie die Augen und sinken Sie nach innen.

Dann sprechen oder denken Sie diese Sätze und versuchen dabei, sie wirklich so zu meinen: „Möge ich in meinem Herzen wohnen. Möge ich glücklich sein. Möge ich mich gesund und geborgen fühlen. Möge ich unbeschwert und friedvoll durchs Leben gehen.“

Als Nächstes senden Sie diese vier Sätze einer Person, mit der Sie gerade Schwierigkeiten haben („Mögest du …“) und anschließend an Ihre Familie, Freunde und alle, die Ihnen nahestehen („Möget ihr …“).

Danach dehnen Sie die Wünsche auf alle Menschen („Mögen alle Menschen …“) und auf alle Lebewesen aus („Mögen alle Lebewesen …“).

Spüren Sie abschließend noch einmal nach, wie es Ihnen geht. Genießen Sie ein paar Momente der Verbundenheit, des Sanftmuts und der Offenheit, bevor Sie Ihre Augen öffnen.

Die reife und verbundene Gesellschaft

Globale Identität bedeutet jedoch nicht, den westlichen Lebensstil allen anderen überzustülpen oder die individuelle Identität völlig aufzugeben, sondern vielmehr, die Verbundenheit in der Verschiedenheit zu sehen, die Gemeinsamkeit in den Unterschieden. Globale und nationale Identität können in uns koexistieren. „Ich bin Bewohner*in dieses Landes und gleichsam der einen Erde. Ich sorge für mein nahes Umfeld und habe auch das größere Ganze im Blick. Ich sehe meine eigenen Bedürfnisse sowie auch jene anderer Menschen.“ In der Tiefenökologie (eine ganzheitliche Umweltphilosophie) wird diese gereifte Haltung als das „Ökologische Selbst“ beschrieben, die Zen-Buddhisten nennen es „Inter-Being“ und bei den Zulu und Xhosa in Südafrika heißt es „Ubuntu“. Letztlich meinen die Begriffe dasselbe: Alles bedingt einander. Ich bin, weil wir sind.

Ob und wann sich dieses verbundene Weltbild durchsetzt, bleibt abzuwarten. Zu groß scheinen die Kräfte der Spaltung und Trennung derzeit noch. Letztlich aber haben wir kaum eine andere Wahl. Wenn wir kollektiv nicht gegen die Wand fahren wollen, müssen wir innerlich reifen. So wie das Kind verschiedene Stadien durchschreitet, um ein gesundes Selbstbild zu entwickeln, so sind wir gefragt, ein gesundes Weltbild zu entwickeln, das uns selbst, aber auch dem größeren Ganzen zum Gedeihen verhilft.

Eine kinnlangen rotbraunen Haaren und Brille und ein Mann mit kurzen braunen Haaren lächeln in die Kamera. Im Hintergrund ist das Grün eines Gartens zu sehen.
Foto: Nina Romana, Fine Design

Julia Buchebner und Stefan Stockinger sind seit über 15 Jahren in der Nachhaltigkeit tätig und beschäftigen sich insbesondere mit der inneren Dimension der Nachhaltigkeit. Als „die Zukunftsalchemisten“ bieten sie Vorträge, Seminare und Lehrveranstaltungen zum notwendigen Bewusstseinswandel. 2021 ist ihr Buch „Innen wachsen – außen wirken“ zu ebendiesem Thema erschienen.

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