Das kulinarische Mehr im Meer
Genussschwärmereien von Jürgen Schmücking
Irgendwie scheint es, als ob die Branche ein wenig hinterher hinkt. Seetang vulgo Seegras vulgo Algen sind hoch in Mode bei uns Bios. Damit sind wir aber gerade die Avantgarde, die wir oft gern sein möchten. Ohne nori, die getrockneten und leicht gerösteten Rotalgen wäre der Aufstieg der modernen Sushi-Industrie nicht möglich gewesen und in jenen Kreisen, in denen Männer im Kreis sitzen und auf Trommeln schlagen und Frauen im Kreis sitzen und mit Engeln sprechen, zieht man sich beim gemeinsamen Frühstück gern Spirulina-Kapseln rein, das – ebenfalls getrocknete und gepresste Pendant zu nori – nur diesmal aus Blaualgen.
Bleiben wir bei der farblichen Trennung. Die ist wissenschaftlich zwar nicht annähernd erschöpfend, bietet aber einen guten Rahmen, um die kulinarische Bedeutung der Algen darzustellen. In Kiel haben deutsche Wissenschaftler angeblich zufällig (wie unglaubwürdig ist das eigentlich?) festgestellt, dass man Algen auch fermentieren kann. Irgendwann haben die pingeligen deutschen Forscher also ein paar ihrer Braunalgen vergessen und nach einiger Zeit festgestellt, dass sich eine leicht bräunliche Flüssigkeit absetzt. Von unbändigem Forscherdrang getrieben wurde der Saft verkostet. Er war alkoholisch. Und er schmeckte nach Sherry. So ein Zufall aber auch. Jedenfalls wird die eichenblättrige Braunalge jetzt in der Ostsee gezüchtet. In etwa 5 bis 8 Metern Tiefe wächst die Grundlage für den deutschen Algenwein. Der Prozess wurde natürlich profund perfektioniert, Stahltanks angeschafft und ein kleiner Konzern geschaffen. Man will ja nichts dem Zufall überlassen.
Fehlt noch die Grünalge. Die finden wir mittlerweile sowohl im Supermarktregal, wie auch beim Asiaten ums Eck. Sie kommt, sofern frisch, in sattem Olivgrün daher, schmeckt ein bisschen wie eine Mischung aus Blattspinat und eingelegtem Shiitake-Pilz und ist eine Bereicherung für jeden Fischgang. Fast jeden. Auch nährwerttechnisch kann sich die ulva lactuca sehen lassen. Magnesium, Calcium ohne Ende, dann die Vitamine A, B12 und C.
Um deutlich zu machen, welche Bedeutung Algen für die japanische Küche haben, hier noch eine kleine Hommage an Kombu, die unscheinbare Braunalge von den kalten Küsten vor Hokkaidō, der nördlichsten Insel des Landes. Der überwiegende Teil der Kombu- (manchmal auch Konbu-) Produktion kommt aus Zuchtbetrieben. Verwendet werden die Algenblätter zur Herstellung von Dashi, quasi der Umami-Ursuppe der Japaner, in der sie, gemeinsam mit Katsuobushi, den geräucherten Thunfischflocken, die wesentliche Zutat bildet.
Da könnten wir uns ein Scherflein abschneiden. Ein wenig mehr Umami bei geringerem Fleisch- oder Milcheinsatz (unser regionales Umami finden wir unter anderem in Fleischextrakt und reifem Hartkäse) würde den ökologischen Fußabdruck unserer Geschmacksverstärker deutlich verringern. Und es muss ja nicht Bonito sein. Die alpinen Köche sind kreativ genug, um gute Alternativen zu finden.
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