Was wir essen wirkt auf uns
Will man Barbara van Melle mit einem Satz beschreiben lautet der: Begeistert für ein verantwortungs- und genussvolles Leben. Einen Widerspruch will sie darin nicht sehen, ganz im Gegenteil. Sie ist überzeugt, dass das Gute nur entsteht, wenn Verantwortung und Genuss kombiniert werden.
Slow Food und die Arche des Geschmacks sind in Österreich untrennbar mit Ihrem Namen verbunden. Was hat Sie bewegt, sich mit diesen Raritäten zu beschäftigen?
2006 habe ich das erste Mal die Terra Madre in Turin besucht. Das ist ein weltweites Treffen von Tausenden kleiner Lebensmittelproduzenten, die sich austauschen und ihre einzigartigen regionalen Produkte vorstellen. Zum Beispiel eine seltene Vanillesorte aus Mexiko, die Champagnerbratbirne aus Deutschland oder Rindenholzkäse aus Rumänien. Österreich war damals mit keinem einzigen (!) Produkt vertreten. Ich war fassungslos. Wir haben doch so viele Schätze! Da habe ich mir vorgenommen, mehr österreichische Produkte auf diese internationale Bühne zu bringen.
Slow Food Wien hat dann gemeinsam mit der Arche Noah, der Arche Austria Bio Austria das österreichische Arche Projekt gegründet. Mittlerweile ist Österreich mit fast 30 sogenannten Arche-Passagieren vertreten. Was braucht es, damit z.B. ein Käse ein Arche-Passagier werden kann?
Um in die Arche des Geschmacks aufgenommen zu werden, muss ein Lebensmittel herausragend schmecken und es muss nachweislich seit Generationen in einer bestimmten Region verankert sein und dort identitätsstiftenden Charakter haben. Wird es dann auch noch von einigen Produzenten hergestellt und ist wieder nachhaltig erwerbbar, hat es die Chance die höchste Auszeichnung zu bekommen, dann wird es zum Slow Food Presidio.
Das klingt nach einem starken gesellschaftspolitischen Engagement. Stand zu Beginn von Slow Food nicht mehr der kulinarische Aspekt im Vordergrund?
Das stimmt. Am Anfang stand der Genuss, der kulinarische Aspekt. Mittlerweile hat sich aber Slow Food zu einem sehr politischen Netzwerk entwickelt, das für die kleinstrukturierte Landwirtschaft und gegen Großkonzerne kämpft. Es ist zum Beispiel extrem wichtig, dass das züchterische Knowhow in Händen der Kleinproduzenten bleibt. Ein Patent anzumelden würde dem Anliegen der Vielfalt und Unabhängigkeit vollkommen widersprechen. Das ist aus meiner Sicht einer der wichtigsten Punkte der Arche des Geschmacks. Der Genuss bleibt natürlich weiterhin ein entscheidender Aspekt.
In Ihrem neuen Buch „Der Duft von frischem Brot“ finde ich 55 Brot-Rezepte und Geschichten über deren Bäcker-Väter, die Brot handwerklich herstellen. Brot wird heute aber überwiegend industriell hergestellt. Wie ist es dazu gekommen?
Das Bäckerhandwerk hat sich seit den 1950 Jahren stark verändert, die Industrialisierung hat auch die Backstuben erfasst. So ist in den 1970er Jahren fast jede Woche eine neue Backmischung herausgekommen und die Technik hat Einzug in den Backstuben gehalten. Das hat einerseits den Bäckern das Leben leichter gemacht und auch das Sortiment vergrößert. Die Kehrseite: Das Handwerk ist in Vergessenheit geraten, so wurden Handsemmeln von Maschinensemmeln verdrängt und die technische Herstellung forderte Zusatzstoffe, weil ansonsten z.B. die Maschinen vom Teig verklebt würden. Heute sind unzählige davon in der Bäckerei zugelassen, viele, wie zugesetzte künstliche Enzyme, sind nicht deklarierungspflichtig. Als KonsumentIn weiß ich also nicht, was in meinem Brot oder Gebäck drin ist.
Hat das etwas mit den zunehmenden Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu tun?
Ja, natürlich auch. Der Weizen hat heute einen enorm hohen Eiweißanteil. Gleichzeitig musste alles immer schneller und effizienter gehen, Teige werden mit viel Germ aufgepeppt, Langzeitführung ist in vielen Backstuben ein Fremdwort, obwohl genau dadurch der Einsatz von Germ stark reduziert werden kann. Dabei ist Zeit das Wichtigste für die Qualität eines Brotes. Die natürlichen enzymatischen Prozesse brauchen Zeit, damit sich der Geschmack bilden kann und das Brot lange saftig bleibt. Beim Wein ist zum Glück der Glykol-Skandal passiert. Sonst hätten wir heute niemals diese Qualität und diesen Aufschwung. Beim Brot bräuchten wir auch ein neues Qualitätsbewusstsein. Brot ist doch eines unserer wichtigsten Grundnahrungsmittel!
Was braucht ein gutes Brot?
Mehl, Wasser, Salz und viel Zeit. Ohne Zeit gibt es kein gutes Brot. Je nach Region und Tradition sind dann auch noch bestimmte Brotgewürze wichtig und natürlich die Seele des Brotes, Natursauerteig. .
Eine Art „Brot-Reinheitsgebot“, wie beim Bier?
Genau. Die Zeit und der Sauerteig sind die Wundermittel Sie bringen den Geschmack.
Kann ich den Sauerteig selbst herstellen?
Das geht relativ einfach. Man macht aus Mehl und Wasser einen Brei, stellt ihn beiseite, füttert ihn regelmäßig mit Mehl und Wasser und wartet darauf, dass die Mikroorganismen wie ein großes Orchester zusammenarbeiten. Wichtig ist eine Umgebungstemperatur von rund 30°C, damit jene Mikroorganismen wachsen, die den guten Geschmack bringen. Die Temperatur zu erreichen ist oft gar nicht einfach, aber es gelingt zum Beispiel im Winter in der Nähe des Ofens oder Heizkörpers oder im Backrohr, wenn man nur das Licht einschaltet, oder unter einer Infrarotlampe. Wer es einfacher haben will: zum Vertrauensbäcker gehen und einen Sauerteig holen. Den kann man dann immer wieder verwenden indem man ihn zum sogenanntem Gerstel konserviert. Dazu nimmt man einen kleinen Teil des Sauerteigs und verbröselt ihn mit der vier- bis fünffachen Menge Mehl bis er wirklich trocken ist. Dann siebt man ihn noch. So ist das Gerstel in einer verschlossenen Dose im Kühlschrank haltbar.
Worauf muss ich achten, wenn ich ein gutes Brot selbst herstellen will?
Ein gutes Brot braucht vor allem Zeit. Wenn man sich nicht gleich an den Sauerteig machen will, kann man all die Rezepte ausprobieren, die mit Vorteigen arbeiten. Das ist eigentlich ganz einfach: man mischt die Teige und lässt sie je nach Rezept bei Raumtemperatur oder im Kühlschrank rasten, bevor sie dann weiter verarbeitet werden. Ein weiterer Vorteil ist, dass das kann auch gut geplant werden kann.
Ist die fehlende Zeit der Grund dafür, dass viele Menschen nicht mehr kochen und backen?
ÖsterreicherInnen sitzen durchschnittlich 168 Minuten pro Tag vor dem Fernseher. In dieser Zeit könnte man schon ein Festmahl kochen (lacht). Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen Freude nur mehr mit Konsum verbinden, mit Fernsehen oder einkaufen gehen, und alles, was mit Herstellung und aktiven Tun zu tun hat, unter die Kategorie „Arbeit“ fällt. Dass ist der Grund, warum das Kochen verschwunden ist. Wochenendshopping ist wie Fast food. Vordergründige Befriedigung, die einen schalen Geschmack hinterlässt.
Bei vielen jungen Menschen zeigt sich aber ein Gegentrend: Sie kochen, nähen, lernen schmieden. Gerade in unserer digitalisierten Welt möchten Menschen auch wieder handwerklich etwas tun.
Wie lerne ich am besten gut kochen?
Wenn ich nicht weiß, dass Nudeln in kochendes Wasser gehören, dann macht es Sinn, einen Kochkurs für Anfänger zu besuchen. Oder Sie suchen sich Freunde, die kochen können und lernen von ihnen. Das ist gleichzeitig auch eine tolle Möglichkeit, seine Beziehungen zu pflegen. Zu Beginn machen sicher ganz einfache Gerichte Sinn. Jetzt im Herbst zum Beispiel Suppen. Eine Kürbissuppe kann man unzählig variieren. Asiatisch mit Curry, Ingwer und Kokos oder steirisch mit Kürbiskernöl.
Wie motiviere ich mich zum Kochen, wenn ich müde nach Hause komme und nur noch die Füße hochlagern möchte?
Suchen Sie sich Gerichte, die Sie in 30 Minuten zubereiten können. Pasta zum Beispiel, oder Risotto. Die Kinder helfen da meist begeistert mit. Es gibt doch nichts schöneres, als gemeinsam am Abend rund um den Tisch zu sitzen, gut zu essen und zu reden.
Welche Grundausstattung sollte ich zu Hause haben?
Suchen Sie sich zwei bis drei gute Öle und zwei bis drei Sorten Essig. Gut ist, was Sie gerne mögen. Kosten Sie sich einfach durch! Wir haben hier in Österreich so viele wunderbare kleine Essigproduzenten. Dann braucht es noch einen guter Pfeffer, Gewürzmischungen, die Sie mögen, und eine Biosuppenwürze. Damit können Sie die meisten Grundgerichte kochen und variabel würzen.
Warum ist Ihnen gutes Essen so wichtig?
Gutes Essen hat zwei Aspekte: Gesundheit und Genuss. Viele Fertigprodukte enthalten viel zu viel Zucker, zu viel Fett und unzählige Zusatzstoffe, von denen wir nicht wissen, wie sie auf den einzelnen Menschen wirken. Die Ergebnisse sehen wir bereits bei den Schulkindern: Adipositas, und Diabetes nehmen extrem zu. Wenn die Kinder in der Schule wieder kochen lernen würden wäre das eine sehr billige Form der Gesundheitsprävention.
Was wir essen wirkt auf uns. Identität entsteht nicht nur durch Sprache, Kultur oder Musik, sondern auch durch das, was wir essen, das was wir als Kinder gegessen haben. Unser Geschmack wird in der Kindheit geprägt, die Gerichte aus unserer Kindheit ankern und erden uns.
Autorin: Roswitha M. Reisinger
Lebensart abonnieren / Diese Ausgabe der LEBENSART bestellen